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Meist hat die Liebe Hausverbot / Stern (3 Seiten) / 1994

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Meist hat die Liebe Hausverbot
Noch immer ist das Thema Behinderte und Sexualität ein Tabu, besonders in Heimen. Der Grund: Die Verantwortlichen haben Angst, die Kontrolle über ihre Patienten zu verlieren.
Foto: Christian Brinkmann
Mit 22 Jahren erkrankte der Hamburger Rainer Kolbe an Multipler Sklerose (MS). Seit sechs Jahren hat er das Bett nicht mehr verlassen. Der 32jährige ist unheilbar krank. Und sehnt sich nach einer Frau. "Lilly, meine Freundin, hat mich verlassen, als ich krank wurde", sagt Rainer und deutet auf ein Foto auf seinem Nachttisch. "Das ist Lilly."
Den Abenteurer, der mit 22 schon in Indien und Nepal, Kuweit und China gewesen war, der so spannend von seinen Reisen erzählen konnte, den mochten viele. Doch mit dem schwerbehinderten Mann, der bald sterben wird, will niemand mehr etwas zu tun haben. Der bleibt allein. Der liegt zu Hause im Bett und wartet, daß der Tag vergeht, die Woche, der Monat. Rainer wartet auf Britta.
Britta ist eine Prostituierte. Einmal im Monat besucht sie den Schwerkranken. In weißen Dessous, wie Rainer es sich wünscht, setzt sie sich zu ihm aufs Bett. Sie streichelt, küßt, massiert ihn. Und führt
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seine Hand an ihre Brüste, den Po, die Schenkel. "So mag er es am liebsten", sagt die 28jährige. "Geschlechtsverkehr ist nicht möglich, aber das, was Rainer und ich miteinander machen, das ist auch Sex, nur eben anderer."
Der Kranke, dem sein Äußeres gleichgültig geworden ist, kämmt und rasiert sich wieder, benutzt ein Deo. "Britta hat mir gezeigt, daß meine Zukunft mehr ist als Schmerzen, Träume und Erinnerungen."
Vor der Begegnung mit Britta habe Rainer oft den Tod als Erlösung herbeigesehnt, erzählt sein Betreuer Peter. Als der schwer depressive Kranke ihm eines Tages seinen Wunsch anvertraute, einmal noch mit einer Frau zusammenzusein, ging der Pfleger zu seinem Chef. Schließlich hatten sie die Idee, im Kollegenkreis zu sammeln und davon ein Mädchen zu bezahlen.
"Ich hatte vorher noch nie mit Behinderten zu tun, weder privat noch beruflich", sagt Britta. "Ich dachte, bei denen läuft sowieso nichts." Als sie Rainer zum ersten mal sah, wollte sie gleich wieder kehrtmachen. Doch dann spürte sie, wieviel dieses Treffen dem Behinderten bedeutete, der seit zehn Jahren nicht mehr mit einer Frau intim gewesen war. Sie blieb.
Britta bekommt dreihundert Mark für eineinhalb Stunden. "Jedem kann das zustoßen, was Rainer passiert ist", sagt das Callgirl. "Durch ihn habe ich gelernt: Auch wenn man behindert ist, möchte man doch wie ein Mensch leben, mit Sex und allem."
In den Niederlanden ist diese Einsicht längst verbreitet. Psychologen und Therapeuten sorgen dafür, daß Behinderte ihre erotischen
Bedürfnisse befriedigen und ausleben können. Viele Kommunen zahlen einen Zuschuß für Sex mit Prostituierten.
Doch nicht alle Menschen mit körperlichen oder geistigen Handicaps sehen in der bezahlten Liebe eine Lösung. "Das ist doch nur eine Illusion, reines Geschäft", sagt Günther Berner, der seit seiner Kindheit unter Muskelschwund leidet. Aufgeklärt hat sich der bärtige Rollstuhlfahrer selber – beim Studium von Sex-Magazinen auf dem Klo. Erste Erfahrungen sammelte er im Pflegeheim beim "heimlichen Herummachen" mit anderen Jungen. "Wenn uns jemand vom Aufsichtspersonal erwischt hat, wurden wir im ganzen Heim lächerlich gemacht, bekamen Prügelstrafen, Stubenarrest und wenig zu essen mit irgendwelchen Beruhigungstropfen." Eine geschützte Intimsphäre hat Günther nie kennengelernt. Masturbation wurde als Verstoß gegen die Heimordnung geahndet.
Morgens wacht er mit der Gewißheit auf, so vieles nicht erleben zu können. Er bezeichnet sich als "sexuell total verkorkst".
Günther hat einen ganz normalen Wunsch: Er möchte eine nichtbehinderte Partnerin kennenlernen. "Ein schlankes Wesen mit Grübchen und blauen Augen. Und wenn sie meinem Idealbild nicht so entspricht, bin ich kompromißbereit. Hauptsache, die nimmt mich, wie ich bin." Doch daß er sie irgendwann einmal findet, kann er nicht glauben. "Was soll eine Frau denn auch attraktiv an mir finden?"
Vor kurzem hat sich Günther einen Hund angeschafft. Den läßt er vor seinem Rollstuhl herlaufen, hofft, daß er über den geselligen
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Mischling eine Spaziergängerin in ein Gesprächg verwickeln kann.
"In den Heimen werden behinderte Menschen zu sexuellen Krüppeln erzogen", sagt der Frankfurter Fachjournalist Ernst Klee. Noch immer ist die Trennung nach Geschlechtern in Pflege-Einrichtungen gängige Praxis, selbst in Institutionen, die sich als progressiv verstehen. So gibt es im Heim des Jugend- und Fürsorgewerks in Berlin-Heiligensee neben der gemischten noch immer reine Frauen- und Männerwohngruppen. Zwar betont die Therapeutin Heidemarie Teipen: "Bei uns ist Sexualität kein Thema mehr, sondern etwas Selbstverständliches." Doch zwischen Absicht und Wirklichkeit klafft eine Lücke. Saskia, 31, und Martin, 24, beide geistig behindert, seit vielen Jahren Heimbewohner und befreundet, haben einen Wunsch – sie möchten gemeinsam ein Zimmer bewohnen. Bislang leben sie in unterschiedlichen Wohngruppen. Kaum hatten sie ihren Wunsch geäußert, zerbrachen sich erst einmal die Psycho-Experten im Heim den Kopf, ob das denn auch gutgehen könne. Ergebnis: Saskia ("Wir wollen nur lieb zueinander sein. Solche Schweinereien, die man manchmal im Fernseher sieht, tun weh. So was machen wir nicht") und Martin ("Ich würde immer unser Bett machen und ihr einen Gute-Nacht-Kuß geben") dürfen nicht zusammenziehen. Begründung: Den Kummer nach einer möglichen Trennung würden beide nicht verkraften.
"Nichts als Ausreden", glaubt Claus Fussek von der "Vereinigung Integrationsförderung" in München. "Viele Heimleiter haben Angst, die
Kontrolle zu verlieren: Wenn erst einmal einige Behinderte den Spaß am Sex entdecken, dann werden schließlich alle das Recht auf körperliche Befriedigung einfordern." Fussek, der fünf Jahre in Heimen gearbeitet hat, weiß, daß selbst Ehepaare im Heim getrennt werden. "Sie kommt auf die Frauen-, er auf die Männerstation."
Peter Radtke, behindert, verheiratet, Schauspieler und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft "Behinderte in den Medien", glaubt, daß viele Eltern und Pfleger von Behinderten eine befreite Sexualität blockieren – aus Angst, "die könnten ja weitere Monster gebären".
In der Hamburger Evangelischen Stiftung Alsterdorf hat der Psychologe Bernd Zemella zusammen mit seinen Kollegen eine Sexualsprechstunde ins Leben gerufen, in der es keine Tabus gibt. "Sexualität gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen", sagt Zemella. "Wenn ein Behinderter zu mir kommt, möchte ich ihm Informationen vermitteln. Da viele bei Null anfangen, ist es wichtig, verständliche, deutliche Worte zu gebrauchen." Zemella hat sich Schaufensterpuppen besorgt und ihnen Geschlechtsteile anmodelliert. Mit Hilfe von Fotos und Videofilmen informiert er Behinderte über Geschlechtsunterschiede, Sexualität, Schwangerschaft, Verhütung, Selbstbefriedigung, gleichgeschlechtliche Liebe, Aids.
Doch selbst die fortschrittlichsten Pfleger und Psychologen können bislang ein Problem nicht lösen. Die in den Niederlanden üblichen Zuschüsse für sexuelle Fürsorge müssen in Deutschland noch erkämpft werden. Der Hamburger MS-Kranke Rainer Kolbe hat beim
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Sozialamt einen Antrag auf finanzielle Unterstützung für seine Treffen mit Britta gestellt, ist aber abgewiesen worden! Mangels rechtlicher Grundlagen, teilte die Behörde mit, könne die Anfrage nicht bearbeitet werden.
Rainer und sein Pfleger Peter geben nicht auf. Ein medizinisch-psychologisches Gutachten soll den Nachweis erbringen, daß Brittas monatliche Besuche den Gesundheitszustand des MS-Kranken verbessern und sein Leben verlängern. Rainer: "Notfalls ziehen wir bis vors Bundesverfassungsgericht."