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Der Flügel-Virtuose / Lufthansa Exclusive (7 Seiten) / 2012

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Der Flügel-Virtuose
Hans Kleissl ist der Herr der Flügeltürer. Die Mercedes 300 SL aus den fünfziger Jahren sind für ihn echte Kunstwerke, die er mit grenzenloser Hingabe restauriert und teuer verkauft. Ein Besuch bei einem Besessenen - kurz vor dem 60. Geburtstag der 300 SL
Fotos: David Klammer
Hans Kleissl lässt den Motor des Flügeltürers an und parliert erst mal über schier unglaubliche Preise. Für Schrott. Für edelsten Schrott. „250 000 Euro bezahlen wir heute schon für einen verrotteten, verrosteten 300 SL, den unsere Suchagenten auf einem Schrottplatz in Los Angeles, auf einem verlassenen Grundstück in Brasilien oder in einer norddeutschen Scheune ausfindig machen“, sagt der 58-Jährige. Selbst ausgebrannte Wracks, sagt er, kosteten mehr als der Flügel-SLS AMG, den Mercedes vor knapp zwei Jahren wieder aufgelegt hat und den es ab 187000 Euro zu kaufen gibt.
Die Ein- und somit auch Verkaufspreise für die legendären 300 SL Sportwagen von Mercedes aus den fünfziger Jahren sind in den letzten fünf, sechs Jahren regelrecht explodiert, erklärt Kleissl, der sich auf die weitgehend originalgetreue Restaurierung der Sportwagen spezialisiert hat. Die Nachfrage ist riesig, das Angebot winzig. Für Kleissl sind die Flügeltürer, von denen nur
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rund 1400 Stück (zwischen 1954 und 1957) gebaut wurden, und die Roadster (1858 Stück von 1957 bis 1963) „die schönsten und spektakulärsten Wagen, die jemals in einer deutschen Autofabrik vom Band gelaufen sind“. Er forscht und führt Dossiers über den Verbleib der Legenden auf vier Rädern. Rund 600 Exemplare dieser Kostbarkeiten sind bereits durch seine Hände gegangen, schätzt er. Er wisse von rund 85 Prozent aller 300 SL, wo sie fahren, parken, wem sie gehören. Seine Datenbank sei Millionen wert, er habe sie gut gesichert. Momentan gebe es noch rund 100 bis 200 Wagen, nach denen die Szene fieberhaft fahnde. „Sechs bis zehn 300 SL Flügeltürer sind verloren“, sagt Kleissl. „Sie sind in China gelandet, wurden dort als Kulturgüter klassifiziert und dürfen nicht mehr ausgeführt werden. Schade drum.“
Nach einer rasanten Probefahrt klappt Hans Kleissl die Tür des schwarzen Flügeltürers hoch, steigt aus und stapft entschlossen zum Chefmechaniker. Gerade ist der Wagen durch die Inspektion seiner Werkstatt gegangen. Die Endabnahme macht Kleissl immer selbst. Beim Fahren hört er, was mit dem Auto ist, wo es noch hakt, sagt er. Mit dem Klang des Motors bei diesem schwarzen „Flügel“ ist er noch unzufrieden. Der Chefmechaniker nickt, macht sich Notizen. Der Besitzer, ein Italiener, will das Auto am nächsten Tag abholen - die Mechaniker müssen Überstunden machen. Der Motorsound muss perfekt sein. Und alles andere auch. Für Kleissl ist es Beruf und Berufung, die Raritäten wieder zurück auf die Straße zu bringen. „Die 300 SL sind nicht nur Traumautos“, sagt er beim Gang über
den Klosterhof, wo graue, lindgrüne, rote, beigefarbene und blaue Coupés und Roadster in der Sonne glänzen. „Sie sind Antiquitäten, Kulturgüter, rollende Kunstwerke. Wenn es perfekt passt, verschmelzen Fahrer und Fahruntersatz miteinander. Bei einem solchen Anblick läuft es mir kalt den Rücken runter, da erlebe ich meinen ganz persönlichen Augenblick des größten Glücks.“
Genau daran arbeitet er. Hier in Polling in Bayern, südlich des Ammersees bei Weilheim gelegen. Auf dem 10000 Quadratmeter großen Wirtschaftstrakt eines alten Klosters, den er vor mehr als 30 Jahren gekauft und dessen Stallungen und Scheunen er nach und nach renoviert hat, dazu die Mühle. Hier hat er die passenden Parkhäuser für sein atemberaubendes SL-Antiquariat gefunden. In seiner Firma HK-Engineering, die sich fast ausschließlich um die legendären Sportwagen aus den Fünfzigern kümmert, beschäftigt er 35 Spezialisten aus Deutschland, Tschechien, Kasachstan, Benin und Italien: Mechaniker, Motorentechniker, Karosseriebauer, Lackierer, Lederspezialisten. Sie restaurieren mit grenzenloser Sorgfalt die Flügeltürer und Roadster, stecken bis zu 4000 Arbeitsstunden in so manches Wrack vom Schrottplatz. Ihr Lager mit Original-Ersatzteilen dürfte das am besten sortierte der Welt sein.
Die restaurierten Schönheiten verkauft Kleissl für Preise zwischen 500000 und 850000 Euro. Je nach Zustand, Vorbesitzer und Geschichte. Nach Korea, Argentinien, Brasilien, Australien, Südafrika, Russland, Amerika, Mexiko, Venezuela, Italien, Deutschland, Österreich, in die Schweiz und die Emirate. Der Aga Khan,
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Millionäre, Milliardäre sind seine Kunden. Von keinem seiner Mitarbeiter verlange er, dass er schnell arbeite. Nur eins sei ihm wichtig, erklärt er mit leiser Stimme: „Perfektion.“ Er ist ein von den Flügeltürern Besessener. Sie sind seine Passion, sein Lebensgefühl. Er selbst besitzt neben rund 30, 40 anderen Oldtimern - so ganz genau weiß er das gerade gar nicht - auch zwei „Flügel“. Früher hatte er noch einen weiteren, „leicht gemacht und getunt“, mit dem er ab 1995 bei Oldtimer-Rennen in England (Goodwood Festival of Speed), Mexiko (La Carrera Panamericana), Italien (Mille Miglia) und Australien (im Vorprogramm eines Formel-1-Rennens) Gas gegeben und den Silberpfeil als Erster wieder auf die Rennpiste zurückgebracht hat. Er brachte es rasch zu einer gewissen Berühmtheit in der Branche und wurde weltweit bekannt als Spezialist für 300 SL.
Einer von Kleissls beiden Flügeltürern (von null auf 100 in knapp zehn Sekunden, bis 270 km/h schnell, der Verbrauch liegt bei 13 bis 15 Litern auf 100 Kilometer) war mal im Besitz von Porfirio Rubirosa, einem der größten Playboys aller Zeiten. Rubirosa wurden Affären mit Marilyn Monroe, Soraya und Evita Perón nachgesagt. „Ist doch ein geiles Gefühl. Allein der Gedanke, dass die Monroe mal in meinem Auto mitfuhr“, sinniert der Bayer und streicht sanft über den mattgrauen Lack des Wahnsinnswagens, der „unverkäuflich“ ist.
Außer seinen beiden eigenen stehen immer zwischen 40 und 50 der 300 SL Oldtimer in Kleissls Kloster, so eine Anhäufung sieht man sonst nirgends. Die Garagen und Verkaufsräume sind
wahre Schatzkammern. In ihnen parken Kundenautos, die zur Reparatur oder zur Verschönerung hier sind. Und Autowracks, die Kleissls Späher irgendwo aufgetrieben haben - in den USA, Italien, Mexiko, Brasilien, in Ägypten oder im Libanon. Sind sie erst mal in Kleissls Besitz, sind sie auch meist schon weiterverkauft. Nur wenige Wagen müssen länger als ein paar Wochen auf einen neuen Besitzer warten. Vor Kurzem kam ein reicher Schwede zu Besuch, der von der 300-SL-Manufaktur in Polling gehört hatte. Wollte sich eigentlich nur mal umgucken. Als er wieder wegfuhr, war er Besitzer von gleich zwei 300 SL, einem Flügeltürer und einem Roadster.
Vor einigen Monaten hat Hans Kleissl über sein Netzwerk ein Flügeltürer-Wrack in Libyen ausfindig gemacht. Es wäre schon längst in Polling, sagt er, wenn nicht der Bürgerkrieg dazwischengekommen wäre. Kleissl hofft nun, nach dem Ende der Gaddafi-Zeit, dass er den Transport des 300 SL von Libyen nach Deutschland jetzt endlich anschieben kann.