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Land ohne Ärzte / Hamburger Abendblatt (Seite 3) / 2010

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Land ohne Ärzte
Auf dem Land werden die Mediziner knapp. Einigen Regionen droht der Kollaps. Jörg Heuer hat in Niedersachsen und Schleswig-Holstein unterversorgte Patienten und Landärzte besucht.
Fotos: Roland Magunia
Dies ist eine Reise ins medizinische Notstandsgebiet. Es beginnt auf gut halber Strecke zwischen Hamburg und Hannover. Immer die A 7 hinunter, Abfahrt Bad Fallingbostel und dann noch 20 Kilometer über plattes Land. Die Menschen hier in den kleinen, von Mischwäldern und Mooren gesäumten Dörfern Ostenholz und Westenholz, 280 und 260 Einwohner, gut einen Kilometer voneinander entfernt, sprechen viel in der Vergangenheitsform: "Früher", "war" und "hatten" ist oft zu hören in diesen nur auf den ersten Blick idyllischen Orten.
Hier ist die Zeit nicht nur stehen geblieben, sie ist zurückgedreht worden. Die lauschige Abgeschiedenheit ist in Wahrheit völlige Verödung. Dies sind Orte, wo sich Fuchs und Hase wirklich gute Nacht sagen. Wo es außer an glücklichen Hühnern und frischer Landluft an so ziemlich allem mangelt.
"Früher hatte Ostenholz 700 Einwohner, einen Bäcker, Fleischer, Friseur, Tante-Emma-Laden,
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eine Post, Sparkasse, kleine Betriebe, Kneipen, einen Gasthof. Das Onkel Nickel. Da hat mal John Lennon übernachtet. Und wir hatten sogar einen richtigen Landarzt", sagt der Ostenholzer Helmut Lohmann, 65, in Erinnerung an die guten alten Zeiten.
Lange her. Heute gibt es keine Läden und Arbeitsplätze, kaum junge Menschen, keine Infrastruktur. Und auch keinen Landarzt mehr. Hier nicht, in den Dörfern und Gemeinden ringsherum auch nicht. Es gibt in Ostenholz nur noch den Imbiss Cadi Mac an der Bushaltestelle. Sonst nichts. Gar nichts.
Rentner Lohmann ist in seinem Bauernhaus, wo er nur noch Kleinvieh hält, geboren. Sein Herz hängt an Haus, Hof und Heimat. Ehefrau Christa, 68, ist vor 14 Jahren aus Mannheim zu ihm gezogen. Sie habe sich an das Landleben gewöhnt, sagt sie am Küchentisch sitzend und ein wenig gequält lächelnd.
Doch seitdem die Gesundheit nicht mehr mitspielt, die Diabetikerin hatte einen Schlaganfall, schwinden bei ihr langsam Landliebe und Landlust. "Es gibt ja nicht nur keine Ärzte, es gibt auch keine Hausbesuche. Hier kommt keiner mehr raus. Lohnt sich für die Ärzte wohl nicht. Kriegen sie nicht bezahlt. Dorf und Doktor - das funktioniert nicht mehr", klagt sie.
Sie habe keinen Autoführerschein, nur einen Motorroller. Für jede Spritze und Überweisung, jedes Rezept muss ihr Mann sie jetzt im Winter in die Praxis nach Bad Fallingbostel chauffieren. Wenn er nicht kann, fährt sie mit dem Schulbus über Land. Doch auf die Art gehe oft ein ganzer Tag drauf. Oder sie ruft ein Taxi. 20 Euro hin, 20 zurück: "Die Krankenkasse zahlt keinen Cent für die Fahrtkosten.
Ich würde schon gerne da leben, wo eine ärztliche Versorgung gewährleistet ist. Man wird ja nicht jünger. Und tot über dem Zaun hängen will ich hier nicht irgendwann, nur weil ich im falschen Ort wohne."
Sie möchte wegziehen. Er aber nicht. Viele haben das Dorf verlassen, um in der Nähe von Arztpraxen zu wohnen, sagt Christa Lohmann. Viel zu viele, sagt Helmut Lohmann.
Ostenholz und Westenholz liegen mitten in Niedersachsens Ärztemangel-Problembezirk Soltau-Fallingbostel. Die medizinische Versorgungslage ist dramatisch. Ralf Meier, 39, zuständiger Praxisberater von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), Bezirksstelle Verden, erklärt, dass allein in dieser Region, die durch die Landflucht der Weißkittel als "fast unterversorgt" gilt, sofort 30 Arztstellen besetzt werden könnten, sogar müssten: "Wir suchen händeringend. Wir bieten den Medizinern Umsatzgarantien. Das heißt, was der durchschnittliche Hausarzt in Niedersachsen verdient, würden wir auch dem, der sich in Ostenholz oder Westenholz niederlässt, garantieren. Selbst wenn nur drei Patienten im Monat kämen. Konkret bedeutet das: Wenn sich ein Arzt in Ostenholz niederlässt, garantieren wir ihm einen Jahresumsatz von 250 000 Euro."
Der Ärztemangel sei so gravierend, so Meier weiter, dass manche Gemeinde sogar bereit sei, dem heiß umworbenen Landarzt bei der Miete oder den Beschaffungskosten unter die Arme zu greifen: "Nur - wir finden keinen Arzt. Weil es in den abgelegenen Gemeinden an fast allem fehlt, was ihm und
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seiner Familie das Leben komfortabel und lebenswert macht."
"250000 Euro hören sich ja herrlich an. Doch Umsatzgarantien sind kein Einkommen. Es müssen hohe Betriebskosten und Investitionen abgezogen, Kredite aufgenommen werden", sagt Martin Grauduszus, 51, Präsident des Vereins Freie Ärzteschaft: "Weil man die ärztliche Versorgung durch angestellte Ärzte in medizinischen Versorgungszentren ersetzen wollte, hat die Politik über Jahre veranlasst - Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen haben es umgesetzt -, dass die unabhängige Arztpraxis auf dem Lande keine Zukunft mehr hat. Das Honorierungssystem hinkt. Die Gesundheitsreformen haben das Gesundheitssystem krank gemacht. Und nun stecken wir vor allem in den ländlichen Regionen in der Sackgasse."
Erst 2008 sei das Honorar für viele niedersächsische Hausärzte wieder arg gekappt worden. 2009 wurde es um bis zu 20 Prozent erhöht, um 2010 erneut um circa 15 Prozent gekürzt zu werden. Damit sei die bedrohliche Situation von 2008 fast wieder erreicht. Das, so Grauduszus, erkläre auch, warum ein Landarzt heute keinem jungen Kollegen guten Gewissens mehr raten kann, eine Praxis zu übernehmen. Umgekehrt haben viele junge Ärzte auch kein Vertrauen mehr in den politischen, den Krankenkassen- und den KV-Apparat.
In Kürze, wenn die vielen alten Landärzte sich in den Ruhestand verabschieden, droht sogar in so manchen abgelegenen Regionen der akute Notstand. Nicht nur in Niedersachsen, wo es mit 678 deutschlandweit die meisten unbesetzten Arztsitze gibt, sondern auch in anderen Bundesländern.
In den Problemdörfern Ostenholz und Westenholz ist der Versorgungsnotstand Alltag. Besonders gravierend, seitdem vorletztes Jahr der aus Afghanistan stammende und im elf Kilometer entfernten Hodenhagen praktizierende Hausarzt Abdul-Hafiz Ebrahimchel seine Praxis dicht gemacht hat. Nach mehr als 30 Jahren. Er war der Letzte in der Gegend, der noch Haubesuche abstattete, wenn es mal zwackte, der Patient Zuspruch benötigte oder zu Hause sterben wollte. Als wäre Doktor Ebrahimchels Ausscheiden nicht schon Aderlass genug, ist unlängst auch noch der Landarzt aus Schwarmstedt (15 Kilometer von Ostenholz/Westenholz entfernt) bei einem Autounfall tödlich verunglückt und hat sich der Doktor aus Düshorn in Richtung Walsrode verabschiedet. Nachfolger: Fehlanzeige.
Ortswechsel. Ein anderes Bundesland, ähnliche Probleme: Schleswig-Holstein, Landkreis Dithmarschen. Von Hamburg immer die A 23 hinauf, kurz vor Heide runter. Durch flache Marschenlandschaft und Windkraft-Parks übers platte Land. Im Vergleich zum Landkreis Soltau-Fallingbostel ist Dithmarschen noch ganz gut dran. Hier gibt es nur acht freie Arztsitze.
An diesem Montagmorgen strömen in die Landarztpraxis von Johann Kielholz, 58, die Patienten zu Fuß aus dem Ort und aus den Nachbargemeinden mit Taxis, Bussen und Fahrgemeinschaften heran. Die meisten haben eine Strecke von zehn, 15 Kilometern zurückgelegt, einige kommen von abgelegenen Höfen und aus Dörfern, die 20 bis 40 Kilometer von Kielholz' Praxis in Wöhrden entfernt liegen.
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Es ist eine modern ausgestattete Gemeinschaftspraxis mit fünf Ärzten und einem Patientenstamm von mehr als 3000 Personen. Kielholz und Kollegen machen noch Hausbesuche. Rund um die Uhr. 40 Besuche am Tag sind keine Seltenheit. Die Patienten in den Wartezimmern - und vor allem die in den heimischen Wohn- und Schlafzimmern, von Herzinfarkt und Altersschwäche gebeutelt, von Krebs gezeichnet, sind voll des Lobes. Dankbar, dass es den mobilen Doktor gibt. Also alles in guten Bahnen? Kielholz verneint resolut: "Auch unsere Praxis hat nach den jüngsten Honorarreformen ein budgetiertes Regelleistungsvolumen, eine Quote, eine Punktzahlobergrenze. Ist diese erreicht, arbeiten wir für umsonst. 25, 30 Prozent unserer Leistungen werden heute von den Kassen nicht mehr bezahlt. Für die Grundversorgung eines Patienten bekomme ich gerade einmal rund 36 Euro pro Quartal, ob ich ihn nun einmal oder zwanzigmal behandele. Ich werde rückwirkend in Regress genommen, wenn ich zu viele Medikamente verschreibe oder Verbandsstoffe verwende. Ein Controller würde mir sicher raten, eineinhalb, zwei Tage in der Woche dichtzumachen, auf Hausbesuche eventuell ganz zu verzichten. Aber ich sträube mich. Denn dieser Beruf ist für mich Berufung."
Das jetzige kassenärztliche Versorgungssystem hält Kielholz für "unheilbar krank", die Politik habe die Hausärzte "in die Pfanne gehauen": "Es muss mehr Geld ins System." Doch auch er weiß nicht, woher. "Der Landarzt ist eine sterbende Spezies. So viel ist sicher", resümiert Kielholz. "Und wenn bei uns eine größere Investition nötig wird, sind auch wir weg.
Bei uns ist es noch fünf vor zwölf, anderswo schon ein paar Minuten später."
Gert Schanen, 68, seit 33 Jahren Dorf-Doktor im 20 Autominuten von Wöhrden entfernten Pahlen, hatte Pech und Glück zugleich, erklärt er. Pech - weil er seit drei Jahren einen Nachfolger für seine Landpraxis gesucht und einfach keinen gefunden hat: "Früher haben Landärzte Praxis und Patienten, bei mir sind das rund 1200, quasi an den Nachfolger verkauft. Das war auch eine Art Altersabsicherung. In deren Genuss komme ich nun nicht."
Glück - weil Gemeinde und Bürgermeister gerade vor wenigen Wochen doch noch einen Arzt auftreiben konnten, der sich hier an der Eider niederlassen will. Die Gemeinde richtet extra für ihn neue Praxisräume her, die Miete wird günstig sein.
Der Plan: Der alte Landarzt hört am 30. Juni auf, der neue eröffnet am 1. Juli seine Praxis. Alles, was der von seinen medizinischen Geräten gebrauchen kann, schenke er ihm, sagt Schanen: "Für mich ist das Wissen, dass meine Patienten weiter vernünftig versorgt werden, das Wichtigste."
Die Patienten in Pahlen können weiter in ihrem Dorf zum Doktor gehen. Doch in immer mehr Arztpraxen gehen die Lichter für immer aus. "In den kommenden fünf Jahren werden in Schleswig-Holstein 900 Hausärzte, also die Hälfte aller jetzt noch praktizierenden, in den Ruhestand gehen. Viele werden keinen Nachfolger finden", warnt Marco Dethlefsen, 37, von der KV Schleswig-Holstein. "Unsere Probleme, die medizinische Versorgung
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der Landbevölkerung zu gewährleisten, werden ausufern. Wenn wir jetzt nicht gemeinsam gegensteuern!"