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Indianer / Max (10 Seiten) / 1999

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Indianer
Sie waren ganz normale Deutsche. Doch dann verschlug es sie in den WILDEN WESTEN. In abgelegenen Reservaten begannen sie ein neues Leben: Sie wurden INDIANER. Max hat drei von ihnen besucht.
Foto: Martin Schoeller
Über der Prärie liegt Stille. Ein Adler gleitet im Segelflug von seinem Jagdrevier hinüber zum Nistplatz auf dem wuchtigen Sandsteinfelsen. Nur mickrige Kakteen, Wacholdersträucher und Zedernbüsche wachsen auf dem rissigen Boden. Die Sonne senkt sich langsam, sie hüllt das Indianerland in glühendes Abendrot.
Hier in Arizona, rund um das Monument Valley, siedeln die Navajo, der größte Indianerstamm der USA: mehr als 250000 Native Americans, wie sie genannt werden. In besseren Zeiten — bevor Christopher „Kid" Carson mit seiner Armee sie geschlagen und hierher getrieben hatte — nannten die Navajo sich selbstbewusst Dine, das Volk. Sie lebten auf viel fruchtbareren Böden von Ackerbau und Schafzucht. Und sie waren ebenso starke wie grausame Krieger.
„Mit dem Auto brauchst du sechs Stunden, um das Reservat von Nord nach Süd oder von Ost nach
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Ost nach West zu durch queren”, sagt Dietrich Weber. Er hat es oft getan. Der schlaksige Mann aus Heddersheim in Baden-Württemberg lebt seit neun Jahren im Reservat. Es ist seine Heimat geworden. Und er ein Indianer.
Der Wind frischt auf, bläst dem 42-Jährigen feinen Sand ins bartstoppelige Gesicht und lässt den schwarzen Zopf tanzen. Ed nennt er sich jetzt, weil „Dietrich" für jeden Indianer ein Zungenbrecher ist. Ed gibt seinem Dodge-Bus einen Klaps auf den Kühler, schlendert stolz am Drahtzaun entlang. Den Zaun hat er vor wenigen Wochen um das kleine Stück Land gezogen. Sein Land. Für das bisschen Staub auf dem Hügel oberhalb der Navajo-Hauptstadt Window Rock hat er dem Stamm 18000 Dollar hingeblättert. Für das Fertighaus sogar 50000. Viel Geld für Ed. Doch er wollte sich unbedingt seine eigene Insel schaffen. Sein Rückzugsgebiet.
Eine US-Bank hat ihm den Kredit dafür gegeben. Es war ein harter Kampf. Denn die meisten Geldhäuser betrachten Reservat-Bewohner generell als nicht kreditwürdig. Genauso wie die meisten Versicherungen sich weigern, Indianer aufzunehmen. Bei ihm war letztlich wohl entscheidend, glaubt Ed, dass er keine „richtige Rothaut" ist, sondern ein deutscher Indianer.
Eine Hausratversicherung indes hat der Weiße nicht bekommen. Er ist überhaupt nicht versichert. „Was soll's? Der da oben lenkt unsere Geschicke”, sagt er Schulter zuckend. „Manitu macht das schon. Ich verlass' mich auf ihn."
Das hat auch Eds Nachbar getan. Und trotzdem ist ihm vergangene Nacht ein Rind erschossen worden. „Der Kuh-Killer muss high gewesen sein. Oder besoffen. Oder irre. Vermutlich war er alles gleichzeitig. Der Typ hat das Tier wie ein Sieb durchlöchert", jammert der Indianer, der mit glasigen Augen auf einen Plausch angeschlurft kommt.
Seine zwei restlichen Rinder will er nun beschützen und sich die nächsten Nächte mit dem Karabiner auf die Lauer legen. „Ich erwische den Kerl", sagt er. „Ich blase ihm den Skalp runter. Ich mache Hackfleisch aus ihm."
Ed tätschelt dem wütenden Krieger die Schulter und klopft zwei Marlboro aus der Schachtel. Die beiden Langhaarigen rauchen und tratschen noch ein bisschen. Über den niedrigen Wasserdruck, die vielen Autounfälle und den schlechten Fernsehempfang. Dann schweigen sie. Gucken in den Sternenhimmel. Scharren mit den Füßen im Sand. Irgendwo in der nahe gelegenen Schlucht jault ein Kojote.
„Sieh bloß zu, dass du nicht den Falschen erwischst", sagt Ed noch, bevor er wieder in sein Haus geht. „Nicht, dass du irrtümlich mich für den Kuh-Killer hälst. Ich bin verdammt allergisch gegen Blei." Drinnen kratzt er sich nachdenklich am Ohr. Die Sache mit der Kuh beunruhigt ihn. Und ein paar andere Sachen auch. „Jeder Haushalt hier hat mehr Knarren als Kochtöpfe. Jedes erdenkliche Kaliber. Alkohol ist zwar verboten, aber natürlich hält sich keiner dran", sagt er und winkt genervt ab. „Verdammt noch mal, heute will ich von dem ganzen
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Scheiß nichts mehr hören." Denn heute ist mal wieder einer dieser seltenen Abende, an denen Ed „Freiheit" fühlt. „Stärke", wie er sagt. „Und Unabhängigkeit."
Die Geschäfte in seiner Firma Cool Runnings unten im 5000-Seelen-Nest Window Rock laufen ganz gut. Sohn Joseph, 5, und Tochter Dee, 7, liegen bereits im Bett. Seine Squaw Laurinda redet zwar kaum ein Dutzend Worte am Tag, aber das ist normal bei ihr. „Sie ist Meisterin im indianischen Schweigen", raunt Ed in der kleinen Einbauküche, während die 41-jährige Frau im Wohnzimmer nebenan in der Navajo Times blättert. Ed hat schon lange aufgegeben, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Ihre Meinung zu erforschen. Er lässt seine Frau schweigen.
Während eines sechswöchigen Rucksackurlaubs in den Staaten hatte er sie kennen gelernt. Bei dem großen traditionellen Indianerfest, dem Powwow, hat es gefunkt zwischen ihnen, sagt Ed. Das war 1978.
Erst zwei Jahre später hatte der Deutsche genug Geld zusammen, um wieder nach Arizona zu düsen. „Ein Traumurlaub." Danach bestand ihr Kontakt sieben Jahre lang aus Briefen und Postkarten. Die folgenden drei Jahre herrschte Funkstille.
Ed wohnte in Heddersheim, später in Mannheim. Er spielte Gitarre in lokalen Rockbands, verdiente seinen Lebensunterhalt mit dem Verkaufen selbstgeschneiderter Lederklamotten und dem Abkassieren von Arbeitslosengeld. „Aber mir ging's ganz gut. Ich lebte lässig in den
Tag hinein, hing mit Kumpels rum, hörte alte Scheiben, trank 'ne Menge Bierchen und legte ab und zu ein schroffes Gitarrensolo hin", erzählt der Schnauzbartträger. Auch mit den Frauen lief es ganz gut. Solo war er selten. Doch die geheimnisvolle Indianerin mit der wallenden, schwarzen Mähne und den nachdenklichen, braunen Augen ging ihm in all den Jahren einfach nicht aus dem Kopf.
1990 raffte er sich auf. „Entweder ich kriege sie — oder ich vergesse sie." Nach Tagen vergeblicher Suche im Reservat fand er Laurinda. Sie war immer noch Single. Noch immer hübsch. Noch immer geheimnisvoll. Und er war noch immer in sie verliebt. Wie an dem Tag vor zwölf Jahren, als sie sich kennen lernten. Also hat er gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. Im nahen Las Vegas. Jetzt, sofort. Und sie wollte.
„Winnetou war schon immer mein King", sagt Ed beim Stöbern in einem Haufen alter Erinnerungsstücke. Als Beweis zieht er das vergilbte Autogrammfoto von Pierre Brice hervor. „Jetzt lebe ich selbst schon so lange im Wilden Westen. Oft war's echt die Hölle. Hab' jahrelang mit der Familie im Wohnwagen gehaust. Kein Job, kein Geld, gar nichts hatten wir. Um uns herum war zwar immer diese grandiose Landschaft, dieser funkelnde Sternenhimmel und dieses lange Abendrot, aber sonst fast nur Armut, Arbeitslosigkeit und Alkoholismus. Das macht matt. Das Wort aufstecken geisterte mir dauernd durch die Rübe."
Zuerst versuchte er, mit dem Verkauf von Lederklamotten über die
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Runden zu kommen. Keine Chance. Sein Zeug war zu teuer für hiesige Verhältnisse. Und überflüssig. Kein Indianer braucht modische Fransenwesten, breitkrempige Hüte und hochhackige Cowboystiefel für 120 Dollar. Das begriff Ed ziemlich schnell.
Die ersten Dollar machte er auf Flohmärkten mit Mokassins, Schnitzereien, Perlen, Armreifen und anderem bunten Nippes, auf den besonders die Indianerfrauen und die Kinder scharf sind. Er klapperte Indianerfeste in den ganzen USA ab. Das Geld reichte gerade so für Benzin, Burger und die Brühe, die sie hier Kaffee nennen.
Erst als er sich auf seine alte Leidenschaft besann, ging es bergauf: die Musik. „Rote Männer wollen nicht Sting, die Stones, schon gar nicht die Spice Girls hören”, sagt Ed. „Die stehen auf ihre eigene Mucke. Traditionelle Indianermusik mit Rasseln, Trommeln, Lautgesang. Und da es kaum Profi-Produzenten in den Reservaten gibt, hab' ich eben angefangen, ein Studio ein zurichten, Kontakte zu Musikern aufzubauen. Zu Cheyennen, Apachen, Komantschen."
Das war die Rettung. Momentan bringt Ed jeden Monat eine neue Kassette oder CD heraus. Er produziert in Indianerkreisen bekannte Bands mit Namen wie Blackhorse, Eagle Creek, Navajo Nation Swingers oder Cherokee Rose. Und die Geschäfte gehen gut. Eds Musiklabel Cool Runnings ist innerhalb des vergangenen Jahres zum Geheimtipp geworden. Viele seiner Kunden und Künstler reisen extra aus anderen Reservaten an. Manche ein paar tausend Meilen. Aus Kalifornien, Colorado, Nevada, New Mexico und Montana.
Das gefällt Ed, der inzwischen weiß, dass Amerika tatsächlich noch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist. „So 'n an sich unambitionierter Typ wie ich mischt munter im Musikgeschäft mit", sagt er und lacht leise vor sich hin. „Das ist in good old Germany garantiert nicht mehr möglich. Da geht alles nur noch über Beziehungen und Arschlecken." Ed hat es im Wilden Westen ohne das alles geschafft. „Das soll mir erst mal einer nachmachen."

Als Roswitha Freiers Pferd starb, veränderte das ihr Leben. Schlagartig und total. Der Wallach war ihr „bestes Stück", ihr „Ein und Alles", sagt die 35-jährige Pferdenärrin aus Durmersheim bei Karlsruhe.
Sie gab ihren Job bei der Bank auf und schmiss auch die Stelle als Jugendleiterin im Reitverein. Ohne Ankündigung. Ohne Absprache. Sie wollte nur noch eins: aussteigen. Ihr Ziel: Amerika.
Bekannte, Freunde, Familie — alle waren erstaunt. Die Rosi war doch immer so zuverlässig, vernünftig, bodenständig. Und jetzt das. So weit weg. So ganz alleine. Und — das ahnte damals nicht mal sie selbst — für so lange. Aus den geplanten sechs Monaten sind in zwischen mehr als fünf Jahre geworden. „Ich will für immer bleiben", sagt Rosi. Ein Feldweg im Pine-Ridge-Reservat der Oglala-Sioux-Indianer in South Dakota ist Schuld an ihrem ungeplant langen Aufenthalt.
Die Sioux hatten so tapfere und berühmte Krieger wie Sitting Bull,
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Black Elk und Crazy Horse in ihren Reihen. Die berittenen, federbehangenen Büffeljäger wehrten sich von allen Stämmen Nordamerikas am längsten und erfolgreichsten gegen die weißen Eroberer. Sie besiegten Custers Truppen im Juni 1876 bei der legendären Schlacht am Little Bighorn. Erst 1890 wurden die Sioux von 450 Soldaten, die mit automatischen Gewehren und Hotchkiss-Schnellfeuerkanonen bewaffnet waren, beim Massaker am Wounded Knee endgültig bezwangen. Fast 400 Frauen, Kinder und Krieger fanden dabei den Tod. Das hat Rosi so gelesen — und so ist es auch passiert. Die Berichte haben sie sehr betrübt, sagt sie. Aber auch neugierig gemacht.
Der Regen goss in Strömen, als sie von der regulären Straße, die durch die Badlands inmitten des Sioux-Landes führt, auf den Feldweg abbog, der ihr Leben verändern sollte. Der Scheibenwischer schmierte. Der Motor stotterte. Die zierliche, stets ungeschminkte Brünette überquerte den brodelnden White River und folgte dem Hinweisschild zum „CunyTable Café".
Viele Meilen fuhr sie durch unberührte, absolut menschenleere Mondlandschaft. Nirgendwo konnte sie das Café sehen. Gar nichts konnte sie sehen. Nur Berg und Tal und Matsch und Geröll.
Der Weg wurde zum reißenden Bach. Immer modriger. Ein paar Mal drehten die Reifen durch. Rosi bekam Angst. Die Frau von der Touristeninformation hatte sie noch eindringlich gewarnt, es sei sehr gefährlich, ins Reservat zu fahren. Die Sioux seien unberechenbar und
gewalttätig. Wie wilde Tiere.
Wenden und zurückfahren kam jedoch nicht in Frage. Der Weg war viel zu schmal dafür. Also weiter geradeaus. Irgendwann würde es schon kommen, das Café. Oder war das Hinweisschild doch nur eine Falle? Eine Masche der Indianer, ahnungslose Touristen anzulocken, auszurauben und...? Gruselige Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Dann wurde es auch noch dunkel.
Endlich tauchte zwischen zwei Regenschwaden — wie ein Geisterhaus — das Café auf. Mitten auf einer riesigen Hochebene. Die wahrscheinlich abgelegenste Kaschemme der Welt. Ein rostiger Blechverhau, geführt von zwei warmherzigen Mittsiebzigerinnen. Die machten Rosi nicht nur Tee und Tortillas, sondern gaben der blassen, bibbernden Deutschen auch ein Bett für die Nacht.
Am nächsten Morgen — zum Frühstück — betrat ein zweiter Gast das Café. Howard. Von Beruf Truckfahrer. Ein stattlicher Sioux. Eigentlich wollte der alte Indianer nur mal kurz den Ort seiner Kindheit aufsuchen und ein wenig in Erinnerungen schwelgen. Vier Wochen später war er mit Rosi verheiratet.
Das Ehepaar bezog den Flachdachbau neben dem Cafe und eröffnete die Singing Horse Trading Post. Einen Wohnzimmerladen, in dem sie Adlerkrallen, Federn, bunte Plastikperlen, Medizin-Tee, Perlmutt- und Siltierschmuck, Trommeln und Leder verkaufen. Vornehmlich an Indianer. Denn Fremde verirren sich nur selten in diese Gegend. Und wenn doch mal jemand unten an der Touristeninformation
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nachfragt, lautet die Antwort noch immer: „Nicht anhalten im Reservat. Nicht aussteigen."
„So ein Schwachsinn", sagt Rosi mit ungewohnt barschem Ton und kriegt gleich einen roten Kopf. Sie fühlt sich unter den Sioux völlig sicher. „Die Indianer sind nett. Ich habe überhaupt noch keine schlechten Erfahrungen mit ihnen gemacht, im Gegenteil. Mein Lebenstraum ist hier, im angeblich ärmsten und heruntergekommensten Reservat Amerikas, wahr geworden."
Im Moment ist Rosi alleine zu Hause, ihr Mann ist wochenlang auf Verkaufstour in Nevada und Kalifornien. Draußen ist es dunkel. Gewitter. Der Sturm heult gespenstisch. Strom setzt immer wieder aus. Rosi hat Angst vor Tornados. Morgen früh wird sie gleich den geplatzten Autoreifen wechseln, das defekte Wasserrohr kitten und die kaputte Scheibe durch eine Plastiktüte ersetzen, damit es nicht weiter hinein regnet.
Dann wird sie zum Einkaufen, Waschen und Müll entsorgen in die Stadt fahren. Nach Rapid City, dem ehemaligen Goldgräbernest am Fuße der Black Hills. Hin und zurück sind es stramme 150 Meilen. Und danach muss sie sich wieder ums Geschäft kümmern. Um die Trading Post. Die wirft noch immer so wenig ab, dass sie und Howard unter der Einkommensgrenze von 6000 Dollar pro Kopf und Jahr liegen. Damit gehören sie zu denen im Reservat, die Lebensmittelmarken vom Stamm beziehen. Ohne diese Marken könnten sie nicht auskommen. Doch darüber spricht Rosi nicht gerne.
„Die Probleme, mit denen ich mich hier herumschlage, sind wenigstens real", sagt sie nur. „In Durmersheim ging es immer bloß darum, welche Klamotten man trägt, welches Auto man fährt. Hier geht es ums Überleben. Jeden Tag."
Das letzte Mal Kino, Theater, Disco? In der Boutique? Im Restaurant? „Keine Ahnung. Kann ich mich nicht dran erinnern. Ist mir aber auch nicht mehr wichtig. Ich bin zwar arm, aber frei." Der einzige Luxus, den sich Rosi gönnt, heißt Crystal. Ihre hellbraune Stute hat gerade ein Fohlen bekommen. Irgendwann demnächst in diesem Reservat will die deutsche Sioux verhaltensgestörten Jugendlichen mit therapeutischem Reiten eine Alternative zu Rumlungern, Klauen, Hauen, Saufen und Drogen bieten. „Wenn man Kinder und Pferde zusammenbringt, kommt immer etwas Gutes dabei heraus", sagt sie. Genauso, wie wenn man Erwachsene und Pferde zusammenbringt? „Ich bin doch das beste Beispiel. Nur meinem guten alten Wallach habe ich es zu verdanken, dass ich hier bin."

Mario Neumann nannten sie schon in der Schule nur „Indianer". Mit 17 wollte er unbedingt nach Kanada auswandern. Nur ging das damals nicht. Deutschland war noch geteilt — und Mario lebte auf der falschen Seite der Mauer. Mitte der 80er Jahre musste er wegen „staatsfeindlicher Hetze" für ein Jahr in den Knast. Danach kaufte ihn die Bundesrepublik frei.
Schon wenige Wochen später zog es ihn noch weiter westwärts. In
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Kanada lernte er endlich echte Indianer kennen. Die Stonechilds. Eine Familie von Volk der Cree. Ihr Verhältnis entwickelte sich so gut, dass der 65-jährige Alvin Stonechild den deutschen Indianerfreak 1989 adoptierte und ihm den Namen White Hawk gab.
Der besuchte seine neue, vielköpfige Familie zwei- bis viermal im Jahr, wohnte jedoch weiter in Berlin. Er bastelte intensiv an seiner Karriere als Radio-Journalist, moderierte ein Morgenmagazin, produzierte Reisefeatures und Musik-Specials, interviewte Prominente.
Vor zwei Jahren glaubte der 39-Jährige, genug gelernt zu haben, und fand den Mumm, einen eigenen Radiosender aus dem Boden zu stampfen. Aber nicht in Deutschland, sondern im Okanese-Reservat der Cree-Indianer. Im kanadischen Bundesstaat Saskatchewan.
Das Land der Cree liegt inmitten eines wald- und wasserreichen Hochmoors. Welliges Grasland. Alle paar hundert Meter ein Tümpel, auf dem Wildenten schnattern und Kanadagänse dümpeln. Es gibt Wölfe und Bären, Stachelschweine, Stinktiere, Ratten, herumstreunende Hunde und vor allem eine Menge Wild.
Mario ist seit kurzem mit der 32-jährigen Indianerin Sonia verheiratet. Der Kühlschrank des Ehepaars ist mal wieder leer. Kein Problem, wenn man genug Munition oder wenigstens Pfeil und Bogen im Hause hat. Mario hat beides.
Er schnappt sich das Gewehr, steigt in seinen rostigen Pontiac und macht sich auf die Jagd. Auf Antilopen hat er es heute abgesehen. Doch wenn ihm ein Hirsch vor die Büchse läuft, wäre das auch okay,
sagt er. Er hat Appetit auf frisches Fleisch.
Kurz vor der Abenddämmerung treten die scheuen Antilopen aus dem Unterholz. Der Jäger beobachtet sie aus dem Wagen. Er kurbelt die Scheibe runter, legt an —und schießt. Die Tiere wetzen mit wehendem, weißem Schwanz davon. „Bullshit", flucht Mario und lässt den Motor an. Das Glück hat ihn in letzter Zeit verlassen.
Er ist durch einen „dummen Unfall" nicht nur seinen Job als Trinkwasser-Ausfahrer losgeworden, sondern es ist ihm auch eine Menge Entschlossenheit flöten gegangen. Und Mut. All die Dinge, die wichtig sind, um hier zu überleben.
„Das Leben ist für mich wie ein Tief, aus dem ich einfach nicht herauskomme", sagt Mario. Sein Radioprojekt ist schon lange ins Stocken geraten. Es fehlt an Geld, an Technik, an engagierten Mitstreitern, an Unterstützung vom Stamm. Irgendwie fühlt er sich bei den Cree an die Zeiten in der DDR erinnert: „Auch hier gibt es keinen Privatbesitz. Alles gehört dem Volk. Jedes Stück Land. Jedes Haus. Eigeninitiative und Ärmel hochkrempeln sind den meisten völlig fremd. Stillstand, wohin du blickst."
So verbringt Mario die meisten Tage damit, seine Frau zur Schule zu fahren, wo sie einen Abschluss nachholen will, und sie wieder abzuholen, an Autos herumzubasteln, die Knarren zu putzen oder an seinem autobiografischen Roman weiterzuschreiben. Er hofft, dafür in Deutschland einen Verlag zu finden.
„Die Winter sind so verdammt lang hier. Wenn der Schnee im Mai
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verschwindet, kommen gleich die Zecken und als nächstes die Mücken. Gegen die hilft kein Spray. Eigentlich ist es nur im September richtig schön", sagt der Enddreißiger und lüftet seine Baseballkappe, unter der sich dünnes Haar verbirgt.
Manche Cree nennen ihn „Deutscher”: Sie glauben, dass Deutschland irgendein anderer Stamm ist. Irgendwo im Osten, in den Wäldern. Bald wird es Mario wohl tatsächlich wieder ostwärts ziehen. Zurück nach Berlin. Und trotzdem wird er nie wieder ein normaler Deutscher werden, sondern irgendwie bleiben, was er immer sein wollte: ein Indianer.