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Im Dorf der Sterne / Mercedes-Benz Classic Magazin (12 Seiten) / 2018

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Im Dorf der Sterne
In der kroatischen Gemeinde Imotski ist die Mercedes-Benz Dichte so hoch wie nirgends sonst auf der Welt. Warum das so ist? Wir fuhren ins dalmatinische Hochland und fanden die Antwort: Es ist Liebe
Fotos: Alexander Babic
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Um die einzigartige Magie der Mercedes-Benz Gemeinde zu ergründen, fliegt man am besten nach Split. Am Airport der kroatischen Adriastadt nimmt man sich einen Leihwagen. Einen mit Stern, versteht sich. Das macht später vieles viel einfacher. Mit dem Auto fährt man gut 80 Kilometer durch das dalmatinische Hochland in Richtung Südosten. Dem Ziel näher kommend, begegnen einem bereits merkwürdig viele Mercedes-Benz. Neuwagen, Gebrauchte, Youngtimer – und auch auffallend viele Klassiker.
Je mehr man sich dem Städtchen Imotski nähert, desto mehr Sterne längst vergangener Fahrzeugepochen sieht man. Auf dem Asphalt, aber auch auf Feld-, Wiesen- und Weinwegen. Findet gerade eine Oldtimer-Rallye oder gar ein historischer Filmdreh statt? Nein, es ist ein ganz normaler Tag. Ein Freitag. Alles ist wie immer. Und genau das ist es: das Geheimnis von Imotski.
Priester mit „Pagode“
Mit etwas Glück begegnet man in Imotski gleich dem Priester Ivan Turić, 78, der gewöhnlich in den Straßen der Kleinstadt mit seinem 280 SL Roadster, Baujahr 1969, unterwegs ist. Die Pagode in Beigemetallic-farbener Lackierung, mit Automatikgetriebe und viel bezaubernder Patina sei für ihn der „perfekte Dienstwagen“, erklärt der Priester mit einem anerkennenden Seitenblick auf den Mietwagen: „Pagoden, also die geschwungenen Dächer fernöstlicher Tempelbauten, sind so etwas wie Himmelspforten. Ist das nicht schön? Doch warum es hier so viele Mercedes-Benz gibt?
Nun, vom Himmel gefallen sind sie sicher nicht!“ Der Zweisitzer mit Hardtop und cognacfarbenem Leder sei sein „Lieblingsstern“, jedoch nicht sein einziger. In den Garagen des Priesters parken auch ein 280 SL (R 107) und ein 450 SLC (C 107) – alle gebaut in den 1970er- und 1980er- Jahren. Sind Sie ein glücklicher Mann, Monsignore? „Ja, ich schätze, das bin ich. Ich habe ein Faible für schöne, ästhetische Dinge, und Mercedes ist einfach der König der Straße. Die Pagode sehe ich als rollendes Kunstwerk“, sagt der in Schwarz gewandete Gottesmann mit dem großen, hölzernen Kreuz um den Hals. Mit einem „Gott segne Mercedes“ braust der Priester lächelnd davon – und lässt einen erst mal irgendwie staunend zurück.
Lifestyle mit Lässigkeit
Und wenn man sich dann in Imotski als Nächstes mit Ivan Topić, 53, Inhaber einer kleinen Baufirma, mit seiner Ehefrau Ružica, 52, selbstständige Friseurin, den Töchtern Matea, 19, Lehramtsstudentin, und Ana, 21, Jurastudentin, sowie Sohn Mile, 23, Archäologiestudent, an deren Wohnhaus trifft, erlebt man gleich wieder eine Sternstunde!
Rings ums Haus parken die Fahrzeuge der Familie. Sie sind die Antwort auf viele Fragen, die man hat. Historische Mercedes-Benz seien für sie „Lifestyle“, „Lebenselixier“ und „Ausdruck einer gewissen Lässigkeit“, sagen Töchter, Mutter und Sohn bei eiskalter Cola auf der Terrasse. Die Sonne strahlt, ein laues Lüftchen weht. Wie viele Mercedes-Benz Klassiker denn aktuell im Familienbesitz seien? „Es sind 13. Einige Strich-Acht und SL, ein G-Modell.
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Zwölf unserer Autos fahren, eines wird gerade aufgebaut“, antwortet der Vater mit sichtlichem Stolz.
Männer mit Mercedes
In der Gemeinde Imotski leben 8 000 Menschen. Etwa ebenso viele Mercedes-Benz sind im Dorf der Sterne registriert. Damit ist der Ort, der vom Blauen und Roten See (sie gelten als schönste Seen Kroatiens), von Weinhängen und steilen Felswänden eingerahmt wird und aus dem auch die kroatischen Fußball-Vizeweltmeister Ante Rebić und Ivan Strinić stammen, der Platz mit der größten Mercedes-Benz Pro-Kopf-Dichte der Welt.
Dass es hier ebenso viele Menschen wie Mercedes gibt, hat einen speziellen Grund: Ende der 1960er-Jahre gingen viele Männer – auch Ivan Topićs Vater – aus der strukturschwachen Region als Gastarbeiter, wie man damals sagte, nach Westeuropa. Oft nach Deutschland. Das sogenannte Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und dem damaligen sozialistischen Jugoslawien wurde im Oktober 1968 geschlossen. Mit dem Lohn als Handwerker, Automechaniker, Bauarbeiter oder Kellner hielten die Männer ihre Familien über Wasser. Und wenn sie von ihren Arbeitsorten zurück in die Heimat fuhren, brachten sie ihre Trophäe mit: ihren Mercedes-Benz, Symbol des Erfolgs im Ausland. Ihres Fleißes. „Und auch ihres ausgezeichneten Autogeschmacks“, betont Ivan Topić.
Cappuccino mit Stern
In Imotski, erklärt er, soll sogar mal das ungeschriebene Gesetz gegolten haben, dass niemand ohne Stern auf der Haube zurückkehren darf. So ist Mercedes über die Jahre Markenzeichen und Statussymbol vieler Familien geworden. Die Leidenschaft für Mercedes-Benz haben die Großväter und Väter längst an ihre Kinder und Enkelkinder vererbt. Mehr noch: Die Autos, auf denen Jugendliche heute ihren Führerschein machen, die Feuerwehren und selbst die Bestattungsfahrzeuge – fast alles Mercedes-Benz! Bei manchen Freundschaftsspielen ziert den Anstoßkreis des örtlichen Fußballplatzes statt eines Punktes der Dreizackstern. In den Cafés, Bars und Restaurants gibt es den Cappuccino nicht etwa wie andernorts mit einem Herz aus Kakaopulver – es gibt ihn mit Stern. Und wenn sonntags die Kirchenglocke zum Gottesdienst läutet, fahren viele Gläubige gerne mit ihrem frisch gewaschenen und polierten Mercedes-Benz Klassiker vor. Alles Alltag und ganz normal. In Imotski.
Ja, wir betreiben hier einen großen Kult um die Marke, die für uns mit so vielen positiven Emotionen verbunden ist“, sagt Ivan Topić,der auch Präsident des örtlichen Oldtimerklubs ist. Apropos: Muss man eigentlich einen historischen Mercedes-Benz fahren, um Mitglied zu werden? „Muss man nicht“, antwortet der hemdsärmelige Präsident. „Aber es empfiehlt sich.“
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Marke mit Emotionen
Welcher ist sein ganz persönlicher Lieblingswagen? „Unser Astralsilbermetallic-farbener 240 D 3.0, Baujahr 1974, fünf Zylinder, 80 PS.“ Zu ihm habe er eine besonders emotionale Bindung, erklärt er. Sein Vater, der auf Baustellen in Deutschland schuftete, habe sich den Wagen damals gekauft. Als Neuwagen, mit einem Kredit finanziert und in zwei Jahren abbezahlt. Sechs Jahre später sei der Vater gestorben – doch habe den Wagen vorher seinem Sohn vermacht. Und auch Ivan Topić hat den Strich-Acht bereits jetzt seinem Sohn Mile versprochen. Der wiederum solle ihn später seinem Sohn vererben. Das sei der Plan. „Das ist das ungeschriebene Gesetz unserer Familie“, sagt Mile schmunzelnd. „Denn der Wagen ist nicht einfach nur irgendein Auto. Er ist ein Stück Familiengeschichte. Aber keins, das traurig in der Garage steht. Wir fahren viel mit dem Auto herum. Es macht einfach Spaß.“ Mirko Perkušić, 68, enger Freund der Topićs und selbst auch Mercedes Enthusiast, ging wie viele seines Alters im Jahr 1968 nach Deutschland, erzählt er. Als Maler. Damals war er 18. Er arbeitete in Karlsruhe, später in der Schweiz. Erst vor drei Jahren ist er wieder nach Imotski zurückgekehrt. „Ich bin in meinem Leben immer nur Mercedes gefahren, 27 habe ich insgesamt besessen“, sagt der Rückkehrer. Der erste, den er damals als junger Mann in Deutschland erwarb, war ein schwarzer Ponton 180 D, Baujahr 1956. Heute fährt er das gleiche Modell. „Zurück zu den Wurzeln“, erklärt er.
„Ich habe mich schon als junger Mann in diese Modellreihe schwer verliebt.“ Alte Liebe rostet also tatsächlich nicht? „Wir sind der lebende Beweis“, erwidert er. Wenn er Einkäufe erledigt oder einen Arzttermin hat, wenn er im Zentrum seinen Cappuccino mit Mercedes-Stern zu sich nimmt oder im 4 000 Zuschauer fassenden „Gospin Dolac“-Stadion ein Match des Fußballklubs NK Imotski besucht – Mirko Perkušić nimmt stets den Ponton. „Ich bin nicht nur mit meiner Frau verheiratet“, resümiert er amüsiert. „Mit dem Ponton bin ich es auch.“ Am Wochenende trommelt Ivan Topić gerne Leute für eine Landpartie zusammen. Sehr zünftig geht es zu bei den Ausfahrten. Sie gehören zum Leben in Imotski dazu. So auch an diesem Samstag. 22 Sterne aus den 1950er-, 60er-, 70er- und 80er-Jahren funkeln in der Sonne. Mirko Perkušić ist mit seinem Ponton am Start, der Priester mit seiner golden schimmernden Pagode, Familie Topić mit einigen Strich-Acht und mit dem G-Modell.
Landpartie mit Leckereien
Die Fahrt geht im Konvoi über kurvenreiche Straßen und Pisten. Und während der Pausen an urigen Orten mit schönen Blicken schmecken Schinken, Brot und die beeindruckenden Berge von Fleisch besonders gut. Alles Hausmacherart. So ist es Tradition bei den Treffen Gleichgesinnter.
Warum denn nun meine ganze Familie und so viele Bewohner unserer Stadt Mercedes – und nur Mercedes – fahren?“, fragt Ivan Topić.
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Lächelnd blickt er in die Runde Gleichgesinnter. Beinahe zärtlich kommt die Antwort aus dem Mund des kräftigen, groß gewachsenen Mannes: „Weil es Liebe ist.“