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Flucht ins Paradies / Hamburger Abendblatt (eine Seite) / 2011

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Flucht ins Paradies
Nach dem Super-GAU von Tschernobyl vor 25 Jahren flüchteten Tausende Deutsche aus Furcht vor Verstrahlung in den Südwesten Europas. 150 Familien fanden auf der Insel La Palma eine neue Heimat. Durch Fukushima fühlen sie sich bestätigt
Fotos: Jörg Heuer
Brigitte Ueberschär, 51, kann sich beim Blick auf eine Lücke in der obersten Regalreihe das Lachen nicht verkneifen. In ihrem Bioladen in dem Städtchen El Paso fehlt ganz oben im Regal etwas, das die Deutsche „an schlimme Zeiten in meinen ganz jungen Jahren“ erinnert. „Verflixt, ich habe nur noch zwei Packungen Misopaste im Angebot. Ich muss nachbestellen. Die Leute kaufen das Zeug jetzt wieder wie wild. Wie wir damals nach Tschernobyl. Wir haben Miso regelrecht in uns hineingefressen. Es hieß, es absorbiere die radioaktive Strahlung, lasse die krebserregenden Stoffe gar nicht erst in den Körper hinein. Keine Ahnung, ob es stimmt. Aber durch Fukushima ist Misopaste plötzlich kein Ladenhüter mehr“, sagt die Geschäftsfrau. Sie hat drei erwachsene Kinder, ist geschieden und lebt seit fast 25 Jahren am südwestlichsten Zipfel Europas.
Nach der Reaktor-Explosion in Tschernobyl am 26. April 1986 sind etwa 150 deutsche Familien auf der Flucht vor der Strahlung aus der
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Bundesrepublik auf die Insel geflüchtet. Von La Palma sind es immerhin rund 5000 Kilometer Luftlinie bis Tschernobyl, bis zum nächsten Atommeiler knapp 2000 Kilometer.
Die Geschichte dieser Deutschen ist durch Fukushima wieder aktuell. Wer sie damals für ängstliche Spinner hielt, wird heute neu nachdenken. Auch wenn die Romantik aus dem Leben der Auswanderer auf La Palma längst gewichen ist.
Hippies, Schreiner, Studenten, Physiotherapeuten, Ökoaktivisten
Die gebürtige Rheinländerin Brigitte Ueberschär, von vielen Deutschen auf der Palmeninsel nur Bio-Brigitte genannt, gehörte dem vielköpfigen „Tschernobyl-Tross“ vor fast 25 Jahren an. Er bestand aus Anfang 20 bis Mitte 40 Jahre alten Frauen und Männern, die mit ihren in einen Kleinbus passenden Habseligkeiten, den Ersparnissen und den Kindern nach der Explosion des ukrainischen Kernkraftwerks und aus Furcht vor dem mit dem Regen runtergehenden Fallout radioaktiver Substanzen das Weite gesucht hatten. „Go West, Südwest“, erinnert sich Bio-Brigitte lächelnd, während draußen vor dem Laden die Sonne scheint, Vögel zwitschern und ja, etwas weiter unten das Meer glitzert. „Nur möglichst weit weg vom Strahlungsquell. Von Kernkraftwerken überhaupt.“
Es waren Schreiner und Bauarbeiter, Gastronomen und Ökobauern, Studenten, Hippies und Esoteriker, Pädagogen, Krankenschwestern und auch ein Arzt, die aus Hamburg,
Bremen und Berlin, aus Niedersachsen, Baden-Württemberg und Bayern nach La Palma kamen, sagt Bio-Brigitte: „Die meisten von uns waren Friedensund Umweltaktivisten und natürlich Atomkraftgegner.“
Die Aussiedler kauften Land auf der damals kaum asphaltierten und vom Tourismus erschlossenen Insel, bauten Schuppen, Ziegenställe und verwitterte Ruinen zu Wohnhäusern aus, suchten sich Jobs und Lebensinhalte. Sie fanden eine neue Heimat auf der grünen Insel mit dem ganzjährig milden Klima.
Bio-Brigitte und ihr Ex-Mann, den es nach wenigen Jahren bereits wieder zurück nach Deutschland verschlagen hat, kauften für 25 000 Mark eine verfallene Hütte und ein paar Tausend Quadratmeter Land im Tal unterhalb von El Paso auf der Westseite La Palmas. Hier, wo die Ortschaften Las Manchas, Puerto Naos oder La Laguna heißen - und ein Stück weiter oben im kühleren und wolkigeren Norden, in der Gegend um das Bergdorf Puntagorda, ließen sich die meisten deutschen Tschernobyl-Flüchtlinge nieder.
Bio steckte auf La Palma damals noch in den Kinderschuhen, ich war die erste Biotante der Insel“, erinnert sich Brigitte, die in Deutschland bereits ökologischen Gartenbau betrieben hatte. Sie mietete in El Paso einen kleinen Laden. Die Kunden kamen schnell. Erst die deutschen, dann die Palmeros. Vor zwölf Jahren eröffnete Bio-Brigitte im wenige Kilometer entfernten Los Llanos ein zweites Geschäft. Sie kaufte unterhalb El Pasos mehr Land und ein weiteres Haus. Ihr jüngerer Sohn und ihre Tochter machten auf der Inselschule Abitur. Die Tochter studiert in Sevilla Tiermedizin,
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der jüngere Sohn arbeitet in Spanien als Betriebswirt. Manuel, 30, Brigittes älterer Sohn, ist vor fünf Jahren ins Familiengeschäft eingestiegen. Klar, er sei oft auf dem spanischen Festland und in Deutschland gewesen, habe versucht, weit weg von der Insel einen Job zu finden, und sei dann wieder zurück nach La Palma gegangen. „Ich gehöre hierher, dies ist meine Heimat“, sagt Manuel und stapelt die neu gelieferte Misopaste, 400 Gramm für 5,32 Euro, ins Regal.
Seine Mutter ist froh, dass er bleibt, als einer der wenigen Jüngeren auf der Insel. Sie möchte bald weniger arbeiten, hat drei Pferde und zwei Ponys. Auch am Strand ist sie schon lange nicht mehr gewesen, sagt sie: „Immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit.“ Auf ihrem Grundstück mit wild wuchernden Pflanzen, bunter Blütenpracht und Meerblick hat sie sich einen Reitplatz bauen lassen. „Kinderreiten mit Touristen, das wäre was, das ich mir in Zukunft vorstellen könnte“, sagt sie. Das Grundstück ist heute das Fünfzehnbis Zwanzigfache wert. Hat sie den Schritt auf die Insel jemals bereut? „Nein, gerade nicht, wenn ich sehe, was momentan so läuft an Diskussionen um die Kernenergie und die Katastrophe in Fukushima. Hier sind wir weit ab vom Schuss. Das beruhigt mich ungemein. Und wenn irgendwo etwas passiert, sind alle meine Kinder ganz schnell wieder auf der Insel.“
Die serpentinenreiche Straße nach Puntagorda führt durch Bananenplantagen und kleine Siedlungen. Hier oben im schroffen, noch einsameren Norden, in dem tief hängende Wolken durch die Gärten und Wohnzimmer wabern, leben Birgit Morasch-Ketterle,
48, aus dem Allgäu stammend, auf La Palma Mandel-Birgit genannt - und Midori Runge, 56, aus Bremen, Katzen-Midori genannt, weil sie mit 26 meist zugelaufenen Katzen in einem Haus wohnt.
Mandel-Birgit kauft an Mandeln auf, was sie nur kriegen kann. Sie entschält, röstet und verarbeitet sie zu Mus, das sie in Gläser abfüllt und verkauft. Jedes Jahr produziert sie zwei Tonnen Mandelmus, das sie bis nach Berlin verschickt. Ihr Mann ist Teilhaber einer Schreinerei mit zehn Mitarbeitern und vollen Auftragsbüchern. Auf den ersten Blick läuft bei den Morasch-Ketterles alles bestens.
Als wir nach Tschernobyl hier ankamen, haben wir außer einem Stück Land am Hang nichts besessen. Mal schliefen wir im Campingbus, mal in einer Höhle. Wir haben die Evolution im Zeitraffer nachgelebt - vom Höhlenbewohner zum modernen Menschen.“ Sie kauften Grundstücke dazu und ein Haus, das sie an Touristen vermieten.
Nach so langer Zeit auf der Insel trägt sich Mandel-Birgit, deren Tochter und Sohn längst aus dem Haus und von der Insel weg sind, mit Abwanderungsgedanken. Ihr Mann will bleiben. Sie hätten bereits eine Trennung auf Zeit hinter sich, erklärt Birgit, ihre Ehe sei nicht mehr „sattelfest“.
Ich besitze drei Pferde. Sie sind meine große Leidenschaft“, sagt die Deutsch-Spanierin. „Aber für die Tiere ist die Insel einfach zu eng, sind die Lebensbedingungen nicht ideal. Zu viel Geröll, zu steile Hänge, zu kleine Koppeln und Weideflächen, zu wenig Wege, auf denen sie galoppieren können.
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Auch unsere Immobilien sind im Preis über die Jahre enorm gestiegen. Ich halte gerade nach einem Stück Land in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern Ausschau. Ich will dort gerne etwas mit Pferden machen. Therapeutisches Reiten oder so. Es kann sein, dass ich noch mal ganz von vorne anfange.“ Aber entschieden habe sie sich noch nicht. Die abgeschiedene Sicherheit der Insel gegen die Nähe von Atomkraftwerken, Zwischenund Endlagern einzutauschen berge auch für sie ein großes Risiko: „Ich muss erst noch abwägen, ob ich dieses Risiko eingehen kann. Gerade vor dem Hintergrund des aktuellen Atomausstiegsgezerres in Deutschland.“
Vor der Strahlung konnten sie fliehen, aber nicht vor der Realität des Lebens
Auch Katzen-Midori, langes blondes Haar, sehr schlank, ist von ihrem Lebensgefährten Steffen, mit dem sie Deutschland nach dem Tschernobyl-GAU verlassen hat, schon lange getrennt, will umziehen. Die Feuchtigkeit in den Bergen setze ihr zu, mache sie krank, sagt die Physiotherapeutin aus Bremen, die in einem traditionellen kanarischen Haus mit dicken Wänden und kleinen Fenstern wohnt. Sie arbeitet nur noch sporadisch, strebt die Frührente an und lebt von einer Erbschaft. Sie möchte ihr Anwesen oberhalb von Puntagorda verkaufen und sich im Tal etwas Neues suchen. Für sich und ihre Katzen. Dort scheine die Sonne öfter, gebe es mehr Arztpraxen und sei der Nachbar sicher nicht so streitund schießwütig. „Der Typ, ein Spanier, hat schon ein paar meiner Katzen erschossen“, klagt Midori Runge in ihrem tropisch wuchernden Garten.
„Er liegt auf der Lauer. Wehe, wenn mal eines der Kätzchen sein Grundstück betritt.“
Die Atom-Flüchtlinge suchten Schutz vor der Strahlung, wollten ihren Kindern ein sichereres Leben bieten. Umso zynischer mutet die Geschichte von Maud an. Eine 48 Jahre alte Frau mit langen blonden Haaren. Ihr Sohn Saladin, 29, studierter Elektrotechniker, war drei Jahre alt, als Maud und ihr Ex-Mann 1986 vor den ukrainischen Atomstrahlen flüchteten und nach La Palma in die Nähe von El Paso übersiedelten. Der Sohn baut heute Atomkraftwerke für das französische Energieunternehmen Areva, Weltmarktführer für Nukleartechnik. Ist er ein missratenes, undankbares Kind? Mutter Maud ist jedenfalls sehr unglücklich über die Berufswahl des Sohnes „Aber so ist das nun mal mit den Kleinen“, sagt Ödi J., der mit Maud 15 Jahre verheiratet war, seit 1988 auf der Insel lebt und unweit des Strandes das Musicasa, ein alternatives Gästehaus mit klassischer Musik zum Frühstück betreibt. „Auch unsere Stiefkinder und eigenen Kinder haben ihren eigenen Kopf. Und irgendwie sollte man ihnen den auch lassen.“
Was feststeht, ist, dass Bio-Brigitte, Mandel-Birgit, Katzen-Midori und Maud und Ödi J. ein paar Tausend Kilometer vom nächsten Atommeiler entfernt leben, wenn auch nicht mit allem Komfort, aber mit einem guten Gefühl. Auch nach Scheidungen und Sehnsucht nach der Heimat. Und auch wenn ihre Kinder es anders sehen, sie fänden auf der abgelegenen Insel immer Schutz. Wenn die Technik der Zivilisation wieder einmal versagt.