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Die volle Härte des Lebens / Trip (11 Seiten) / 2010

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Die volle Härte des Lebens
Er ernährte sich von Pizza und Dosenbier, lebte mit Kakerlaken und ließ sich von seiner Chefin demütigen. 14 Jahre später zählt Martin Schoeller zu den gefragtesten Fotografen der Welt. Dank einer so genialen wie einfachen Technik. TRIP-Autor Jörg Heuer verbrachte drei Tage bei seinem Freund und Kollegen in New York. Einblicke in Seele und Karriere eines deutschen Auswanderers.
Foto: MICHAEL WILSON
Es hat schon etwas von Augenarzt, wenn man Martin Schoeller gegenübersitzt.
Oder vom Dermatologen. Gerade mal siebzig Zentimeter liegen zwischen Linse und Nasenspitze. Eine Distanz, aus der sich wittern lässt, ob es zum Frühstück Tee oder Kaffee gegeben hat. Leuchtstoffröhren fluten gnadenlos jede Gesichtspore mit grellweißem Licht. Und auch die Sitzgelegenheit – ein stinknormaler höhenverstellbarer Rollhocker – ist alles andere als bequem. Martin Schoeller nennt den Moment, den viele seiner Protagonisten durchleben, die „ehrliche Sekunde“. Clint Eastwood überstand sie, Jack Nicholson auch, Bill Clinton, Barack Obama, Tom Ford und Angelina Jolie. Von ihnen und vielen anderen schuf Schoeller fotografische Ikonen. Heute sitzt eine Engländerin vor ihm im obersten Stock des Roger-Smith Hotels in der New Yorker Lexington Avenue.
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Jane Goodall, 76 Jahre alt, Schimpansenforscherin, Friedensbotschafterin der UNO. Der Deutsche mit den Dreadlocks, der sich an diesem Morgen extra rasiert hat, geputzte Schuhe und ein gebügeltes Hemd trägt, soll sie für das Magazin National Geographic“ ablichten. Unkomplizierte Kandidaten wie Goodall gefallen ihm. Sie wollte weder Visagist noch Stylist.
Schoeller hat sich intensiv vorbereitet. Er „studiere“ seine Protagonisten immer, sagt er. Er kennt die Fragen, die Goodall am Herzen liegen, und auch über ihre musikalischen Vorlieben ist er informiert. Daher klingen leise Songs von Miriam Makeba, der südafrikanischen Freiheitssängerin, aus den Lautsprechern. Seine jungen Assistenten drängt er, die Baseballcaps wenigstens für die Dauer des Shootings abzunehmen und die in den Kniekehlen hängenden Jeans über den Hintern zu ziehen. „Das ist eine Sache des Respekts gegenüber der älteren Dame“, sagt er. Freundlich. Aber bestimmt.
„Die relevanten Gesprächsthemen dürfen mir während eines Shootings nie ausgehen“, erklärt Schoeller, die Hände hinter dem Kopf gefaltet und durchs Fenster in den blauen Himmel über Manhattan blickend. „Ich versuche immer, eine gewisse Energie aufzubauen. Alles muss bis ins kleinste Detail stimmen. Das macht vor der Kamera geschmeidiger.“ Perfektionismus ist seine Lebensversicherung. Ihm ist klar, dass er immer nur so gut ist wie sein letztes Foto. „Oben zu sein ist schön. Oben zu bleiben ist hart. Gerade hier in New York – auf dem härtesten Fotografenpflaster der Welt.“
Die Methode Schoeller funktioniert nun schon eine Weile. Werbekunden wie Nike, Goldman Sachs oder Saatchi & Saatchi zahlen dem 42-Jährigen Tagesgagen um die 20 000 Dollar. Renommierte Zeitschriften wie „Harper’s Bazaar“, „Vanity Fair“, „Vogue“ und „Rolling Stone“ drucken die Bilder des Mannes, der Richard Avedon als Hausfotograf beim „New Yorker“ ablösen konnte. Weil Schoeller-Strecken eine ganz eigene Handschrift haben. Sie berühren, erzählen Geschichten, und sie zwingen zum Hingucken. Sie jonglieren mit Märchen- und Filmmotiven. Sie versprühen frechen Witz, schroffen Charme und oft auch bissige Ironie. Sein Markenzeichen aber sind jene extremen Close-ups, die an Authentizität nicht zu überbietenden Nahaufnahmen. Vor fünf Jahren katapultierten sie Schoeller endgültig in die Eliteliga der Bildkünstler. Sein Weltbestseller „Close Up“ von 2005 mit Jack Nicholson auf dem Cover erschien in 70 Ländern, verkaufte sich allein in Deutschland 20 000 mal.
So schön das alles klingt, der Lebensweg des Frankfurters unterlag keinem Plan. Fotograf ist er nur durch Zufall geworden.
Ich kenne Martin Schoeller seit gut zehn Jahren. Gemeinsam unternahmen wir damals eine zweiwöchige Reportagereise zu den Indianern Nordamerikas, den Navajos in Arizona, den Sioux in South Dakota und den Cree in Kanada. Wir haben Enten gejagt, uns gegenseitig auf Zecken untersucht, nachts bei den Sioux zwei zugige Wohnwagenquadratmeter geteilt und zum Abschluss der Reise mindestens ein Bier zu viel getrunken.
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Am Tag vor dem Shooting mit Jane Goodall sitzen wir wieder zusammen. In seinem Büro im New Yorker Stadtteil Tribeca. Mit dabei die Assistenten René (24) aus Essen und Michael (25) aus Chicago, die Büromanagerin und die Grafikerin. Alle vier sind bei Schoeller fest angestellt. Er zahlt ihnen ein „ordentliches Gehalt“ und sogar die Rentenversicherung. Das ist durchaus nicht üblich für US-amerikanische Arbeitgeber.
Schoeller ist genauso bodenständig und geradeheraus wie damals, als wir uns kennenlernten und er noch auf dem Weg zum ganz großen Fotografenstar war: herzlich, humorvoll, kein bisschen argwöhnisch oder misstrauisch. Er hat noch immer diesen breiten hessischen Akzent. Er legt keinen Wert auf teure Klamotten. Und er hat ein bisschen mehr auf den Rippen. „Sport ist einfach nicht meine Sache“, sagt er und tätschelt seinen kleinen Bauchansatz. „Ich kann mich einfach nicht ins Fitnessstudio aufraffen. Dabei sollten wir in unserem Alter die Pfunde eigentlich scharf im Blick behalten.“
In der dritten Etage des Speicherhauses hier in Manhattan hat Schoeller für eine horrende Summe Bürofläche angemietet. Sein rasanter Aufstieg erlaubte es ihm, im zweiten Stock sogar ein 270 Quadratmeter großes Loft zu kaufen. Dort wohnt er mit seiner in der Ukraine geborenen Ehefrau Helen und Baby Felix. Der Kleine, gerade ein Jahr alt geworden, ist der heimliche Star der Familie. Ein aufgeweckter Junge, für den auch in Dads Büro Spielzeug bereitsteht und dessen Lieblingsplatz Schoellers Schulter ist.
Eines möchte ich gleich mal wissen: Wie pflegt er eigentlich seine Rastalocken? „Alle zwei Wochen weiche ich
meinen Kopf in der Badewanne ein. Eine halbe Tube Shampoo drauf, mit hundert Litern Wasser ausspülen, das war’s. Die Dreadlocks bleiben dran, bis sie abfallen oder abbrechen.“
Ich bin hier, um dem Phänomen Schoeller auf den Grund zu gehen, will nicht ein, zwei Stunden mit ihm plaudern, sondern dem zurzeit größten deutschen Fotografen drei Tage lang folgen. Schoeller nippt kurz am Kaffee, schiebt Fotoabzüge von Clint Eastwood und dem Ehepaar Obama zur Seite.
Diesmal ist er also die Geschichte. Die Nahaufnahme. Schoeller ist das nicht gewohnt. Aber er lässt sich drauf ein. Sein dauernd surrendes iPhone ignoriert er jetzt. „Bin beschäftigt“, sagt er zu sich selbst. „Muss tief in meinem Leben graben. Hab das ewig nicht getan.“
Wie alles begann, damals in Frankfurt? „Ich bin Scheidungskind“, fängt er zaghaft an. „Mein Vater war Journalist beim Hessischen Rundfunk. Er hatte eine eigene Fernsehsendung. Er war autoritär. Und ich 14, als er sich von der Familie verabschiedete.“ Schoeller bleibt mit seiner Schwester, ein Jahr jünger als er, bei der Mutter, einer Bibliothekarin. „Ohne Vater“, sagt er, „hatten wir viel mehr Freiheiten.“
Martin Schoeller geht aufs Gymnasium, sortiert nebenher am Güterbahnhof Briefe, kellnert, arbeitet mit Behinderten. Über mehrere Jahre betreut er einen Multiple-Sklerose-Kranken. Ein berufliches Ziel verfolgt er nicht: „Mein Vater meinte manchmal, ich würde nie etwas auf die Reihe kriegen. Ich war schüchtern, ging nicht auf Leute zu, guckte meinem Gegenüber nicht ins Gesicht.
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Die Zukunft war für mich ein fettes Fragezeichen.“
Als er das Abi in der Tasche hat, weiß Schoeller nicht, was er anstellen soll. Er schreibt sich an der Uni für Theologie ein. Er hatte keine bessere Idee. Eines Tages, erinnert sich Schoeller, wobei das für ihn so typische jungenhafte Lächeln sein Gesicht entert, sei ein Kumpel mit einer Schnapsidee zu ihm gekommen. Er solle sich doch auch beim Lette-Verein in Berlin für eine Fotodesign-Ausbildung bewerben. Was für ein Vorschlag! Schoeller ist fast 19, und er hat bislang nur Urlaubsfotos gemacht. Doch die Initiative des Freundes bringt plötzlich die entscheidende Wende in Martin Schoellers Leben. Es gibt ein Ziel. Es wird spannend.
Die paar Hundert Mark für die erste Kamera, mit dem er die Bilder für seine Bewerbungsmappe macht, steckt ihm sein Opa zu. Schoeller fotografiert wild drauflos. Natur, Menschen, Gebäude und Gesichter.
An der renommierten Lette-Schule sind die Auswahlkriterien hart. Auf 1000 Bewerber kommen nur 50 freie Plätze. Schoeller wird angenommen. Das gibt seinem Selbstbewusstsein einen Schub. Er scheint tatsächlich so etwas wie eine kreative Begabung zu haben. Das Fotografieren beginnt, ihm Spaß zu machen.
Schoeller bewohnt zu der Zeit im Berliner Arbeiterviertel Wedding eine Hinterhofbruchbude mit einem Zimmer, das lediglich per Brikettofen geheizt wird. Im Winter ist es bitterkalt.
Der Lehrplan an der Fotodesign-Schule, wo „viel Technik gepaukt, aber nur wenig über Stimmungen und Atmosphäre“ vermittelt wird, ist so straff, dass es Schoeller nicht möglich ist, nebenher
noch zu jobben. „Wenn ich eine Parfümflasche fotografieren sollte, hatte ich schon ein Problem. Ich musste das Parfüm ja selber kaufen“, sagt er. Künstlerisch orientiert er sich damals an den Bildern von Hilla und Bernd Becher. Sachliche Aufnahmen deutscher Industriearchitektur. Wassertürme und Hochöfen. Immer im gleichen Stil fotografiert.
Die Lösung seiner Finanzkrise wohnt in der Wohnung unter ihm: Frau Salomon, Rentnerin, keine Familie, keine Freunde, vereinsamt. Schoeller schleppt ihr die Kohlen hoch, kauft ein, unternimmt mit der alten Dame Spaziergänge und Ausflüge bis nach Frankfurt. „Ohne irgendwelche unlauteren Absichten“, betont er und blickt so versonnen, als würde Frau Salomon vor seinem geistigen Auge erscheinen. Seine Gesichtszüge werden weich. „Wir wurden Freunde. Ich mochte Frau Salomon. Für sie war ich vermutlich der Sohn, den sie nie hatte.“ Und Frau Salomon wird Schoellers Sponsor. Sie hilft ihm immer wieder mit ein paar Scheinchen aus. Auch mit so großen, dass er sich eine Profikamera kaufen kann. Am Ende sind es etliche Tausend Mark, mit denen Frau Salomon den Lehrling subventioniert hat.
Mit 21 wird Schoeller das erste Mal Vater. Sohn Niklas ist das Ergebnis einer „Berliner Beziehung“. An der Lette-Schule schafft er den Abschluss. „Ich wusste, ich bin ein guter Techniker, aber noch kein so toller Fotograf.“
Er muss an die Front. Schoeller macht ein Praktikum bei einem Frankfurter Stillleben-Fotografen. Dann ein Ausflug nach Hamburg.
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Er lernt den damals erfolgreichsten deutschen Werbefotografen kennen, dem gerade ein Assistent abhandengekommen ist. Er suche einen neuen. „Boah, dachte ich, Hauptgewinn. Sechser im Lotto“, sagt Schoeller, kratzt sich an der buschigen Kotelette und nimmt einen Biss von dem Putensandwich, das ihm die Büromanagerin gebracht hat. „Ich bin völlig euphorisiert nach Hamburg gezogen.“
Sein erster richtiger Arbeitgeber schießt Werbung und Mode, zahlt 1800 Mark Gehalt – und stellt schroffe Regeln auf. Als dritter Assistent hat Schoeller jeden Morgen um sieben Uhr mit frischen Brötchen auf der Matte zu stehen. Es ist ihm strikt verboten, seine Persönlichkeit in die Arbeit mit einzubringen. Seine Meinung zu fotografischen Inhalten solle er für sich behalten. Die Arbeitszeit beträgt meist 16 Stunden am Tag. Freie Wochenenden? Schoeller schüttelt schmunzelnd den Kopf. Es heißt: Klappe halten und zupacken. Er habe sich bemüht, doch die Chemie stimmte nicht: „Als der Typ mich nach vier Monaten feuerte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Ich habe viel gelernt, war jedoch total überfordert. Aber ich steckte den Kopf nicht in den Sand, denn ich wusste: So langsam kann sich meine Mappe sehen lassen.“
Obwohl er kaum Englisch spricht, fliegt Schoeller 1992 nach New York – Jobsuche. Er fasst sich ein Herz und ruft im Studio von Irving Penn an, einem der ganz großen amerikanischen Porträt-Fotografen: „Penn war selber am Apparat. Ich sackte ehrfürchtig in die Knie. Nein, er brauche keinen Assistenten. Für mich hieß es zurück nach Frankfurt.“
Es ist sein Vater, der Schoeller mit einer Buchidee in die neuen Bundesländer fahren lässt. Er könne doch die sterbende
Industrieregion Bitterfeld dokumentieren. Gut, warum nicht. Schoeller zieht für drei Monate nach Sachsen-Anhalt, streift mit der Kamera durch die bröckelnden und chemisch verseuchten ostdeutschen Fabriklandschaften. Er fotografiert die düstere Endzeitstimmung in Schwarz-Weiß. Es werden beklemmende Bilder. Der Vater schreibt die Texte. Das Buch nennen sie „Abschied von Bitterfeld“. Schoeller holt es aus dem Regal hinter seinem Schreibtisch, blättert darin, wiegt nachdenklich den Kopf. „Heute würde ich das ganz anders fotografieren“, sagt er.
Der Band liegt wie Blei in den Regalen – und Schoeller zieht es nach der Stippvisite erneut in den Westen. In den fernen Westen. Mit 700-Dollar-Stipendium und Journalistenvisum verabschiedet er sich 1993 nach New York. Zweiter Versuch. Alles oder nichts. „Diesmal war die Großmeisterin der Glamourfotografie, Annie Leibovitz, meine Zielperson“, erzählt Schoeller in seinem Lieblingsrestaurant, dem „Walker’s“, wo die Chefin ihn mit Küsschen begrüßt und sein riesiges Jack-Nicholson-Foto eine Wand ziert. „Ich hatte in den Hamburger Deichtorhallen eine Ausstellung von ihr gesehen. Ich wurde ihr Fan. Solche Fotos musste ich auch machen. Ich musste bei ihr einen Fuß in die Tür kriegen. Von ihr lernen.“ Immer wieder ruft Schoeller im Büro der Leibovitz an. Dutzende Male. Immer wieder holt er sich von der Studiomanagerin eine Abfuhr. Nein, nein, nein, sie bräuchten keinen Assistenten.
Schoeller kommt bei einer Freundin unter. Sie haust in einem „verschimmelten Loch“, in dem auch Kakerlaken und Ratten Untermieter sind.
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Für einen feuchten Händedruck jobbt er bei einem Produkt-Fotografen. Er hält sich vor allem mit Pizzen und Budweiser-Bier am Leben. Die Zeit sitzt ihm im Nacken. Es wird wieder eng. „Es gab für mich nur noch zwei Möglichkeiten“, sagt der Deutsche. „Ich schaffe es als Fotograf in New York. Oder ich suche mir in Frankfurt einen Job in der Behindertenhilfe.“
Ein Schicksalsschlag eröffnet Schoeller die große Chance. Der erste Assistent von Leibovitz stirbt – wohl eine Überdosis. Der zweite Assistent rückt auf, der dritte wird zum zweiten, die dritte Assistentenstelle wird frei. Genau in diesem Augenblick ruft Martin Schoeller an. Und endlich kriegt er einen Vorstellungstermin. „Du willst also bei mir arbeiten“, fragt Annie Leibovitz, ohne ihn richtig anzuschauen. „Ich zahle dir 85 Dollar am Tag. Kannst gleich anfangen.“ Draußen auf der Straße jubelt Schoeller, „als hätte ich den entscheidenden Elfmeter im WM-Endspiel verwandelt.“
Bei der im Umgang mit Mitarbeitern extrem schwierigen Leibovitz geht Schoeller von 1993 bis 1996 durch eine „hammerharte Assi-Mühle“, wie er sagt. Sein säuerlicher Gesichtsausdruck verrät, dass er keinerlei Sympathien mehr für sein einstiges Vorbild hegt. Kontakt gibt es keinen. „Ich war Annies Sklave und Fußabtreter. Doch ich habe durch ihren unerbittlichen Drill den Umgang mit Licht von der Pike auf gelernt. Lampen, Blitze, Effekte sind in der Porträt-Fotografie das Wichtigste überhaupt. Und sie war die Beste darin.“
Nach drei Jahren hat er 15000 Dollar gespart, und er denkt, er sei reich. Er wagt den Schritt in die Selbstständigkeit. Den eigenen Stil hat er schon im Kopf, als er noch für Annie Leibovitz arbeitet.
Und er entdeckt noch etwas: „Ich dachte immer, ich müsste die unheimliche Anspannung, die sie bei den Shootings erzeugt, in Entspannung verwandeln. Das schafft wichtigen Raum für Ironie.“
Die ersten Monate nach der Sklaverei beobachtet er die Arbeit der Nachtschicht eines Polizeireviers in New Jersey. Die Zeit bei den Cops sei eine wichtige Erfahrung für ihn gewesen, erinnert er sich, während er die Fotos, die er damals schoss, aus dem Archiv holt und durchblättert. Er erlebt Mord und Totschlag, Not und Elend. Er erzählt mit seinen Bildern Geschichten. Er erkennt, dass Menschen sich in ihrem Umfeld wie auf Bühnen bewegen. Im Studio hingegen erstarren sie. Wenn es ihm gelänge, die Leute im Studio authentisch bleiben zu lassen, würde aus ihm ein großer Fotograf werden. So lautet Schoellers Masterplan.
Die 15 000 Dollar sind schnell verbraucht. Er hat nur eine Kamera. Und teure Lichtanlagen kann sich der Start-Up-Unternehmer aus Germany nicht leisten. Doch Not macht erfinderisch. Es ist die Geburtsstunde seiner mittlerweile legendären Close-up-Technik. Es sind ein paar billige Leuchtröhren, die den authentischen Tageslichteffekt erzeugen und zum elementaren Bestandteil des mobilen Schoeller’schen Ministudios werden. Tag für Tag verfeinert er seine Technik, mit der er geduldig auf den Straßen wechselnder New Yorker Stadtteile sitzt und prägnante Gesichter fotografiert. Die Wahrheit, meint er, stehe den Leuten ins Gesicht geschrieben. Sie herauszukitzeln sei sein Job. „Ich komme mit meiner Kamera immer einen Hauch von unten, um Respekt zu zeigen. Egal, ob mein Gegenüber George Clooney heißt oder ein
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obdachloser Junkie ist“, erklärt Martin Schoeller. „Es ist nicht mein Hauptanliegen, die Leute gut aussehen zu lassen. Ich mache möglichst objektive Bilder, ehrliche, zumindest jedoch welche, die weniger lügen als andere. Dafür arbeite ich genau auf den Moment hin, in dem die Leute hellwach sind, etwas Offenes, Intimes von sich geben und noch nicht gestellt wirken.“
Als eine seiner extremen Nahaufnahmen groß im New Yorker Wochenmagazin „Time Out“ erscheint, gerät dies zu seinem fulminanten Durchbruch. Derartige Fotos gibt es bis dahin nicht. Diese frontale, ungeschönte Bildsprache ist neu. „Ich hatte die Schauspielerin Vanessa Redgrave porträtiert“, sagt der Fotokünstler. „Das Bild schlug ein wie eine Granate. Plötzlich bekam ich Aufträge von renommierten Magazinen. Ich war der Shooting-Star, der junge Wilde, die ganz heiße Nummer.“
Elisabeth Biondi, Bildchefin des elitären „New Yorker“ wurde auf ihn aufmerksam – und protegierte ihn. Wie eine zweite Frau Salomon. Nur auf einem viel höheren Level.
Bei all seinen Porträt-Jobs, Studio-Shootings oder Foto-Reportagen auf der ganzen Welt – immer ist Schoeller auch auf der Jagd nach seinen Head-Shots, ungeschminkten Gesichtern in Großformat, die spannende, geheimnisvolle Geschichten erzählen. „Close-ups sind meine Mission und Leidenschaft. Wenn sie etwas werden, bleiben sie im Gedächtnis“, sagt der kreative Kopfjäger bei einem Spaziergang über den Broadway. „Der fotografische Fight gegen die staatsmännische Steifheit und das öde Hollywood-Strahlegrinsen ist mein Job. Ich liebe ihn.“
Er steht nicht auf Mogelpackungen, sondern will, dass Macken und Makel zu sehen sind.
Schoeller ist einer von ganz wenigen, die nur auf Film fotografieren. Beim Retuschieren von Bildern gibt es für ihn Grenzen. Er steht nicht auf Mogelpackungen, mag Macken und Makel. Er will, dass auch sie auf seinen Bildern zu sehen sind. Und sie sind zu sehen. Tom Cruise und Mariah Carey lehnten ihn als Fotografen sogar ab. Vielleicht weil sie Angst hatten, nicht die üblichen zehn Kilo leichter und zehn Jahre jünger auszusehen wie auf den retuschierten Fotos. Wen hätte er gerne noch vor seiner Linse? Fidel Castro und Nelson Mandela, sagt er.
„Im Grunde mache ich drei Jobs. Neben dem Fotografen bin ich auch Diplomat und Entertainer“, resümiert Martin Schoeller, während seine Assistenten die Lichter für die Goodall-Session final ausrichten. Niklas (20), Schoellers erster Sohn aus seiner Berliner Zeit, gehört auch mit zur Crew. Er will sich dieses Jahr – genau wie einst sein Vater – an der Lette-Schule bewerben. Momentan arbeitet er an seiner Bewerbungsmappe. „Schon verrückt“, sagt Daddy und legt Niklas liebevoll den Arm um die Schulter, „der Apfel fällt wirklich nicht weit vom Stamm.“
Jane Goodall verspätet sich ein paar Minuten. Als sie kommt, hat sie einen Plüschaffen im Arm und entschuldigt sich. „Macht doch nichts“, wiegelt Schoeller lächelnd ab. Dann parliert er entspannt über seine eigenen Reisen nach Afrika und beeindruckt mit frisch angelesenem Wissen über die Protagonistin.
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Das Eis ist gebrochen. Die Fotos sind schnell im Kasten. „Es sind schöne Bilder von einer interessanten Frau“, meint Schoeller. „Gutes Gesicht. Gute Arbeit. Danke, Assistenten.“
Der dritte Tag. Die Pier 59 Studios am Ufer des Hudson River. Zwanzig Leute wuseln seit dem frühen Morgen in dem großen Atelier herum. Ein Aufwand wie beim Film. Als hätte es die Weltwirtschaftskrise nie gegeben. Drei Szenen sollen für ein Magazin-Cover fotografiert werden. Darsteller der Motive sind die US-Komiker Steve Carell und die als Sarah-Palin-Parodistin bekannt gewordene Tina Fey.
Martin Schoeller sitzt, in schwarzen Jeans, schweren Boots und Shirt gekleidet, in der Sofaecke, stochert in einem Obstsalat herum und telefoniert mit der Bildchefin des „New Yorker“. Ein neuer Auftrag. Seine Assistenten haben derweil alles im Griff. Sie sind nicht die Sklaven. Er ist kein Tyrann. Er ist trotz allen Ruhms und Reichtums der sympathische Pfundskerl von vor zehn Jahren geblieben.
Frank Sinatra swingt im Hintergrund. Und als die Schauspieler endlich aus der Maske kommen, schießt Schoeller zielstrebig und beschwingt seine perfekt ausgeleuchteten Bilder – die ganz sicher wieder um die Welt reisen werden.
Der Job ist erledigt. Feierabend. „Trinken wir noch ein Bier?“, fragt Martin Schoeller augenzwinkernd. „Na klar“, antworte ich. „Aber diesmal wirklich nur eins.“