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Die Jüngste Stadt Der Welt / Horizonte (14 Seiten) / 2004

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Die jüngste Stadt der Welt
Kennen Sie Shenzhen? Diese Stadt bricht alle Rekorde: In 25 Jahren wucherte sie vom Fischerdorf zur Neun-Millionen-Einwohner-Metropole. Kaum jemand ist älter als 30, und alle leben ihren Traum von Karriere und schnellem Geld. Jetzt ist Shenzhen dabei, das New York Chinas zu werden.
Foto: Patrick Voigt
Vor fünf Jahren war Hanxin Chen noch ein kleiner Grafik-Designer, der für wenig Geld viel arbeiten musste. Die 1500 Yuan (etwa 150 Euro) Monatsverdienst reichten gerade für Miete, Mobiltelefon und Lebensmittel. Ganz selten mal für einen nächtlichen Barbesuch. Doch an eine Nacht erinnert sich der einen Meter siebzig große Chinese mit dem gestylten Kinnbärtchen und den frisch polierten Fingernägeln besonders gern. Weil sie sein Leben veränderte. Weil sie ihn reich machte: „Ich kam gerade aus London zurück. Dort war alles anders. So cool. In der Bar in Shenzhen dagegen, die ich nach meiner Rückkehr aus Europa besuchte, war es bedrückend. Die Biermädchen spielten gelangweilt Würfel. Ein Betrunkener sang kläglich Karaoke. Die Inneneinrichtung war schädlich fürs Auge“, erinnert sich der 39-Jährige. „Ich dachte darüber nach, wie es wäre, wenn ich selber einen Nachtclub aufmachen würde.“
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Es war Anfang 1999, und Hanxin Chen hatte beim Bier das, was er heute seine „goldene Idee“ nennt: „Ein exklusiver Club im westlichen Stil: deutsches Bier, französischer Champagner, kolumbianischer Kaffee, kubanische Zigarren, argentinische Steaks, italienisches Design, britische Coolness, chinesische Gastfreundschaft. Spitzenköche, Live-Events, Elite-DJs. Techno, House, Hiphop, auch ein bisschen Blues und Jazz. Und natürlich glamouröse Gäste. Models, Künstler, Schauspieler, Sportler. Topleute aus der Wirtschaft. Und Ausländer. 10000 leben in Shenzhen. Eine halbe Million besucht die Stadt jedes Jahr.“ Heute besitzt Chen sechs „Erlebnisrestaurationen“,in denen auf über 10000 Quadratmetern mehr als 600 Angestellte für ihn arbeiten. Die meisten sind zwischen 20 und 25 Jahre alt, stammen aus den armen Provinzen Zentralund Nordchinas. Seine Leute verdienen „sehr gut“, versichert Chen: 100 Euro die Tellerwäscher, 150 die Kellner, 2000 das obere Management. Der staatliche Mindestlohn liegt bei 45 Euro. Chen hat’s geschafft, lebt „den modernen chinesischen Traum“: vom mittellosen Mann zum Millionär. Zum Multimillionär. Und das binnen fünf Jahren. „Das geht nur noch im Wilden Osten. In Shenzhen liegen die Scheine noch auf der Straße.“ Dann braust der Glücksritter in seinem Audi TT davon. Winkend, mit offenem Dach. Durch die blinkenden Hochhausschluchten der brodelnden Riesenstadt.
Vor 25 Jahren war Shenzhen noch ein verschlafenes Fischerdorf zwischen Perlflussdelta und Südchinesischem Meer. Ein paar Jahre nach dem Tod des Diktators und Kulturrevolutionärs Mao Zedong verfügte 1979 dessen Nachfolger und Erneuerer Deng Xiaoping, hier,
in Sichtweite Hongkongs, ein ökonomisches Experiment gigantischen Ausmaßes zu starten.
Vom Fischerdorf zur Finanzmetropole
Er deklarierte das Fischernest zur „Sonderwirtschaftszone“. Auf begrenztem Raum sollte sich das sozialistische China ausländischen Investoren öffnen, ein Stück Marktwirtschaft erproben. Mit chinesischer Macht, westlichen Moneten und einem Millionen-Heer von Bauarbeitern. Anfang der 80er-Jahre war Baubeginn.
Fortan galten für das revolutionäre Stadt-Experiment Superlative: am höchsten, am schnellsten, am spektakulärsten, am jüngsten. Die kommunistischen Planer genehmigen alles, was nach Zukunft schmeckt. Ziel der Entwicklung (Slogan: „A beautiful boom city“) ist es, ein Umfeld wie Singapur mit der Effizienz von Hongkong zu kreuzen.
Wenn das Experiment erfolgreich ist, wird sich die Urbanisierung ganz Chinas daran orientieren, so hoffen die Strategen der roten Stadt- und Staatsregierung unisono. Und das kann die ganze Volksrepublik wirtschaftlich schnell weit nach vorn bringen. Die Neun-Millionen-Metropole Shenzhen ist eine „Tigerstadt“, die so heißt,weil sie mit einem gewaltigen Satz auf die Weltbühne geplatzt ist,sämtliche Entwicklungsschritte vom Fischerdorf zur Mega-City einfach übersprungen hat und kraftstrotzend als monumentales Antlitz des asiatischen Aufschwungs daherkommt. Der Altersdurchschnitt ihrer Bewohner beträgt 25 Jahre. Damit ist Shenzhen die jüngste Stadt der Welt. Und nach einer Untersuchung des chinesischen
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Verkehrsministeriums sind die Menschen hier in den Supermärkten, auf den Straßen und Bürgersteigen auch zügiger als anderswo im Land unterwegs. Als Arbeiter oder Angestellter gehört man in der getunten Großstadt mit Mitte 30 bereits zum alten Eisen. Frauen spüren den Druck des Verdrängungswettbewerbs bereits mit Ende 20. Spätestens dann wird es Zeit, dass sie sich entweder etwas aufgebaut oder angespart haben – oder die Stadt verlassen. Als Reporter knapp unter 40 fühlt man sich bei einem so hohen Tempo und so vielen faltenlosen Gesichtern, wie sich in normal gewachsenen Metropolen ein 60-Jähriger fühlen muss: alt.
Mit einem jährlichen Wirtschaftswachstum von garantiert immer um die 15 Prozent (2003 waren es sogar 17 Prozent) ist die Turbo-Stadt Wirtschaftswunder, Exportmaschine und Magnet für arbeitssuchende Massen zugleich: Im Großraum der expandierenden Metropole gibt es derzeit rund 42000 Privatunternehmen (gut tausend mit ausländischer Beteiligung), sowie knapp 180000 kleinere Familienfirmen. Hier werden die meisten Plastikkugelschreiber, T-Shirts, Regenjacken, Spielzeugautos und Einwegrasierer hergestellt. Aber auch immer mehr Hightech-Produkte. Diese wichtige Industriesparte macht im Großraum Shenzhen bereits 48 Prozent der Gesamtwirtschaft aus: Etwa zehn Prozent der Harddisk-Treiber und 30 Prozent der Magnetköpfe, die weltweit verkauft werden, stammen aus der Metropole am Südchinesischen Meer. Fast 20 Prozent der gesamten Exportgüter Chinas kommen bereits aus Shenzhen. Die geschichts-, aber nicht gesichtslose Stadt, die 1999 vom Weltarchitektenverband UIA den
Preis für Stadtplanung verliehen bekommen hat, ist nicht nur die neueste, sondern auch die reichste und teuerste Metropole der Volksrepublik: Es gibt fünf 5-Sterne-Hotels. Ein Kaffee und frisch gepresster Orangensaft kostet hier fast den halben Monatsverdienst eines Bauarbeiters. Maklerfirmen werben auf fußballfeldgroßen Plakaten mit 680 Quadratmeter großen Luxuswohnungen und 360-Grad-Rundumblick über die City. Nirgendwo sonst in China fahren so viele XXL-Limousinen von BMW, Mercedes, Bentley und Jaguar herum. Viele mit abgedunkelten Scheiben und livriertem Chauffeur. Chinas erste Shopping Malls mit Gucci,Prada,Versace, Boss und Co. und die ersten McDonald’s-Filialen wurden allesamt in der Stadt eröffnet, in der das Geld regiert. So ist auch ein neueres chinesisches Sprichwort zu verstehen: „Du glaubst,du bist reich, bis du deinen Fuß das erste Mal nach Shenzhen setzt.“
Mit einer Gesamtfläche von 1953 Quadratkilometern (die Sonderwirtschaftszone ist „nur“ 396 Quadratkilometer groß, deren gut vier Millionen Bewohner benötigen einen speziellen Ausweis) ist die Stadt,die Spötter „das kommunistische Los Angeles“ nennen, doppelt so groß wie Hongkong. Ein wogendes, buntes Meer aus vornehmlich in hohe Stiefel und Minirock oder enge Jeans und Turnschuhe gekleidete, ständig telefonierende (die Handyminute kostet 0,4 Cent) Teens und Twens, protzigen Wolkenkratzern, riesigen Baukränen und breiten Straßen.
Die jungen Arbeitssuchenden strömen aus allen Regionen des Riesenreichs in die glitzernde Großstadt im Süden, in der noch immer
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die meisten ein Auskommen finden. Die Arbeitslosenrate liegt bei drei Prozent. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Jahreseinkommen lag 2002 mit 28218 Yuan (2800 Euro) klar vor Beijing und knapp vor Shanghai.
Der Hafen ist bereits der viertgrößte der Welt. Im Vergleich zu 2002 hat er im vergangenen Jahr die Anzahl der umgeschlagenen Container um sagenhafte 39,8 Prozent erhöht. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis Hongkong, Shanghai und Singapur dagegen alt aussehen werden.
Denn nirgends werden Bauvorhaben so schnell genehmigt wie in der gigantischen Großbaustelle am Perlflussdelta. Nirgends wird so geklotzt wie hier. Etwa das Diwang-Building: Das 384 Meter (69 Stockwerke) aufragende und damit fünfthöchste Gebäude der Welt wurde in der Rekordzeit von knapp drei Jahren hochgezogen. Einzig Beijing und Shanghai können da mit Mühe noch mithalten. In New York, London oder Berlin kommt man oft nur halb so schnell hoch. Manche der im Eiltempo hingeklatschten Wolkenkratzer müssen nach wenigen Jahren wieder abgerissen werden. Weil die KP-Stadtkommandanten plötzlich andere Ideen ausgebrütet haben. Weil in der Hektik einfach vergessen wurde, einen Lift einzubauen. Oder Fenster, die zu öffnen sind. Oder weil giftige Gase aus den billigen Baustoffen wabern, die Häuser bröckeln oder schimmeln. Schon ein zehn Jahre altes Haus gilt in Shenzhen als historisches Gebäude.
Ein Deutscher in Deng-City
Robert Wildegger steht auf dem Dach eines 33-geschossigen
Büroturms hoch über der Shennan Road, der zentralen Ost-West-Achse, die aus der Sonderwirtschaftszone eine Bandwurmstadt macht. Die Sonne scheint zwar, doch die Sicht ist getrübt. Dunst,Staub und Smog liegen in der salzhaltigen Meeresluft, die sich auch im Winter selten unter zehn Grad abkühlt. Der 37-jährige Bauingenieur in den schweren, dreckverkrusteten Arbeitsschuhen schaut und staunt hinunter auf sein „Riesenbaby“. Er meint die Baustelle dort unten direkt an der achtspurigen Straße. Seine Baustelle. Und ein bisschen meint er auch die Stadt,die ihn so „anstrengt, aufregt, anregt und amüsiert“: „Hier gibt es keine Pause. Nicht mal nachts. Ich habe vor kurzem zwei Jahre in Beijing gelebt. Da war es vergleichsweise ruhig. Die Hektik hier,dieses Wahnsinnstempo reißt auch mich immer mehr mit. Ein Buch lesen, klassische Musik hören oder Schach spielen geht gar nicht. Abschalten ist in Shenzhen eine Kunst,die ich leider nicht beherrsche“, bekennt der Baustellen-Spezialist vom Hamburger Architektenbüro von Gerkan, Marg und Partner (GMP). Seit einem halben Jahr wohnt er gemeinsam mit seiner Frau im gepflegten Mittelklasse-Stadtteil Overseas Chinese Town.
Von Gerkan, Marg und Partner haben die Ausschreibung für das neue Convention & Exhibition Center (SZCEC) gewonnen. Der Entwurf der Hamburger von der Elbchaussee, die auch in Beijing und Shanghai erfolgreich sind, hat den Stadtplanern am besten gefallen: Ein 540 mal 300 Meter großer Riesenrochen aus Stahl und Glas. Mit „schwebendem“ Konferenzzentrum und frei schwingenden, bis zu
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130 Meter langen Flügeln. Die zu überbauende Fläche entspricht 23 Fußballfeldern. Das Investitionsvolumen beträgt 2,8 Milliarden Yuan (280 Millionen Euro).
Um das Messezentrum herum soll in den kommenden drei Jahren sogar Shenzhens neue City entstehen. Die bereits dritte oder vierte innerhalb des letzten Jahrzehnts. Doch es gibt ein Problem: Bereits im Oktober 2004 soll in diesem Rochen die erste Hightech-Messe stattfinden, erklärt Robert Wildegger und krempelt die Ärmel hoch. „Bis dahin muss der Stadt, vermutlich sogar des Landes momentan wohl wichtigstes Bauprojekt zum Großteil hochgezogen sein.“ Kaum vorstellbar,dass dies gelingt. Denn bislang steht gerade mal das imposante Stahlskelett des Messe-Monstrums.
Wildegger jedoch nimmt den Zeitdruck völlig gelassen: „Im Notfall müssen eben noch ein paar hundert oder tausend oder hunderttausend Arbeitskräfte mehr rekrutiert werden. Kein Problem. Vor den Toren der Stadt warten zwei Millionen Wanderarbeiter händeringend auf Jobs.“ Seinen Job auf der gigantischen Großbaustelle kann Wildegger indes gar nicht so klar beschreiben: „Ich bin Diplomat der Firma GMP. Qualitätsmanager. Und Troubleshooter.“ Als solcher muss er die Qualität kontrollieren, die mehrere tausend ungelernte Bauarbeiter abliefern. Muss die chinesischen Statiker, Bauleiter und Parteibonzen beraten. Und vor allem muss er „vermitteln“, erklärt der Mann mit der hohen Stirn und den großen Schritten: „In China gibt es keine gesunde Streitkultur. Hier denkt man in starren Hierarchien. Wie früher. Was der Boss sagt, wird nach dem Prinzip
Ansage und Ausführung gemacht. Auch wenn der Boss gar keine Ahnung hat. Wenn ich dann eingreifen muss,lege ich den Chinesen meist zaghaft und lächelnd, mit Engelszungen und Nerven aus Drahtseilen, die Worte in den Mund. Nur damit die dann sagen können, okay, das ist meine Idee, so machen wir das jetzt.“
Wildegger wundert sich über so manches in der so „einzigartig modernen“ Metropole. Vieles kommt ihm „hinterwäldlerisch“ vor: dass in der Business-Welt kaum jemand englisch spricht zum Beispiel. Dass er mit seinen Scheck- und Kreditkarten nur an einem einzigen Automaten am Hauptbahnhof Geld abheben kann. Dass die Bezahlung eines Knöllchens dank der noch immer wuchernden Bürokratie einen halben Tag in Anspruch nimmt. Und dass seine chinesischen Kollegen spotten, er solle sich endlich ein standesgemäßes Auto zulegen, obwohl er doch schon den Cherokee-Jeep fährt. „Die haben hier das Maß verloren“, resümiert der agile Bauingenieur. „Dennoch: Anderswo herrschen Zaudern und Stillstand. Ich kann mir momentan absolut keinen spannenderen Arbeitsplatz vorstellen als diesen hier.“
Kommerz und Konkubinen
Bei den Fahrten mit einer der vielen das Stadtbild prägenden roten VW-Taxen, beim Schlendern durch die blitzsauberen Straßen und Shops sowie beim Streunen durch protzige Luxushotels, kitschige Erlebnisparks, neonlichtfunkelnde Diskos, Massage- und Karaokebars wähnen die westlichen Reporter sich zuweilen inmitten einer skurrilen Mixtur aus Pop-Art-Performance und Disneyland: Wenn man im
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Erlebnispark „Windows of the World“ vom Hügel der Akropolis aus den Pariser Eiffelturm sieht. Oder vom Kölner Dom fast bis nach Manhattan spucken kann. Hier haben sich die Chinesen ihre eigene kleine Welt erschaffen. In diesem komischen Plastikdorf fehlt keine Sehenswürdigkeit. Und das alles zum Eintrittspreis von zwölf Euro.
Ungläubig staunend bleibt man auch stehen, wenn zum Beispiel ein schneidiger Offizier der Volksarmee aus einem nagelneuen schneeweißen 600er-Dienst-Mercedes steigt und forschen Schrittes den Fahrstuhl des Fünf-Sterne-Hotels Panglin betritt. Sein Ziel ist der um die eigene Achse drehbare, verglaste Fresstempel im 50. Stock.
Oder wenn man im Eingang des Restaurants „Gesunde Gaumenfreuden“ von einer Armee himmelblau uniformierter, grell geschminkter,dauerlächelnder Empfangsmädchen begrüßt wird. Und sich drinnen 25-jährige Broker in schicken Anzügen und in enge Kostümchen gezwängte 22-jährige Karrierefrauen genüsslich schmatzend an knusprigem Schweineohr und gedünstetem Hühnerfuß laben, bevor sie sich wieder ans Ankurbeln des Aufschwungs machen.
Oder wenn man rechts vor dem McDonald’s-Eingang im Stadtteil Buji plötzlich ein märchenhaft schönes Mädchen im wallenden weißen Brautkleid sieht. Am Tisch sitzend. „Trau dich doch, heirate mich“ suggerierend. „Ich mache nur Werbung für Hochzeitsmoden“, erklärt die 18-jährige Traumfrau Huang Xinying aus der bitterarmen Provinz Hubei. „Nur fürs Herumsitzen und Flirten bekomme ich 100 Yuan am Tag. McDonald’s ist ein guter Platz, weil es hier von
Menschen nur so wimmelt. Man sieht und wird gesehen. Das macht große Freude.“
Auch Ayun hat Spaß am Leben in der wuseligen Wirtschaftsmetropole. Die 24-Jährige mit dem bauchfreien Oberteil und der karierten Jeans führt ihren weißen Spitz Jonje an der grünen Leine spazieren. Jonje ist der erste Hund, den Reporter und Fotograf nach fast zwei Wochen lebend auf der Straße sehen. Das liegt wohl vor allem daran, dass die Vierbeiner in dieser Region nicht als treuer Freund und Wegbegleiter, sondern als leckere Delikatesse gelten.
„Mein Hund musste mal raus aus dem Büro. Er hat Husten“, erklärt die fesche Immobilienmaklerin. „Ich nehme ihn jeden Tag mit an meinen klimatisierten Schreibtisch. Das tut ihm wohl nicht so gut. Aber da muss er durch. Das Geschäft geht vor. Ich habe diese Woche schon drei Wohnungen verkauft. Was ist dagegen schon ein Hunde-Husten?“
Manchmal fühlt man sich auch zurückversetzt in Diktator Maos düstere Zeiten: Wenn zum Beispiel aus einem Kaufhaus gegenüber der Bank-of-China-Zentrale plötzlich etwa hundert Verkäuferinnen schweigend herausmarschieren, mitten auf dem Bürgersteig in Reihe antreten und eine Stunde lang von ernst dreinblickenden, teilweise mit Megafon bewaffneten Security-Männern militärisch malträtiert werden. Die Kommandos kommen zackig: „Stillgestanden!“, „Rechts um!“, „Augen geradeaus!“ – Mitarbeitermotivation made in China.
Viermal pro Woche werden die Mädchen jeweils eine Stunde
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gedrillt. Sie finden das ganz normal: „Gibt es diese Ausbildung im Westen denn nicht?“, fragt die 19-jährige Schmuckverkäuferin Fei. Maos langjähriger Leibarzt Li Zhisui schrieb in seinem im Westen erschienenen und in China verbotenen Enthüllungsbuch, dass der Große Vorsitzende einen ausschweifenden Lebensstil pflegte.
Die Schattenseiten der Stadt
Sich bis ins hohe Alter junge Mädchen „zuführen“ ließ.
Doch dass sich heute in Shenzhen fast jeder junge Mädchen leisten kann, hätte der kommunistische Führer sicher mit Gewalt zu verhindern gewusst: 200000 Prostituierte gibt es in Chinas Hauptstadt des Kapitalismus. Die Mädchen mit den oft gebleichten Haaren und dem hellen Make-up, das ihre Gesichter porzellanpuppenhaft aussehen lässt, arbeiten in Hotels und Bordellen, die als Friseur- oder Massagesalon, oft auch als Karaokebar firmieren.
Tausende solcher Etablissements gibt es in der Stadt. Überall kann man Mädchen mieten. Zum Schnäppchenpreis von zehn Euro die Stunde. Und das, obwohl Prostitution in China offiziell verboten ist. Doch darüber können all die „Miss“ und „Massage“ anpreisenden „Mamis“ (Vermittlerinnen) und Zuhälter nur lachen. Denn das Geschäft mit der Ware Sex ist auch hier ein Milliardenmarkt, bei dem die schlecht bezahlten staatlichen und privaten Ordnungshüter fleißig mitkassieren und verlässlich ein Auge zudrücken.
Der Traum der Mädchen – die meisten sind zwischen 18 und Anfang 20 – ist es, einen reichen Geschäftsmann als Ehepartner zu
finden. Oder wenigstens von einem verheirateten Geschäftsmann als Konkubine (Zweitfrau) auserkoren und versorgt zu werden. Sehr viele solcher bizarrer Pärchen (alter Mann – junges Mädchen) sieht man in den „Konkubinendörfern“ Sazhui, Buxin, Xiasha, Buji oder Shangsha.
Hier haben sich viele Hongkonger Wohnungen gekauft oder gemietet, um einen Teil der Woche ungestört mit ihren Zweitfrauen bei Shopping und Sex zu verbringen. Und das ist durchaus kein Privileg mächtiger Männer. Auch Busfahrer, Feuerwehrleute oder Feinmechaniker aus Hongkong können sich den Luxus leisten: Die Löhne in der ehemaligen britischen Kronkolonie betragen noch immer etwa das Zehnfache von denen in Chinas reichster Stadt.
Im Außenbezirk Baoan gibt es kaum lächelnde Menschen. Keine glitzernden Fassaden. Hier ist das Leben hart. Sind die Häuser grau und verfallen. Die Straßen verdreckt und löchrig. In Baoan leben die Erbauer Shenzhens. Manche Jungen kommen nach getaner 16-Stunden-Schicht aus der Innenstadt her, weil sie hier billig schlafen können. Manche vermeintlich Alten, die bereits aussortiert wurden, weil sie von der schweren Arbeit ausgelaugt sind, bleiben nach oft jahrelanger Schufterei in Shenzhen-City hier stecken. Sie beginnen zu saufen. Zu klauen. Zu resignieren.
Sie wissen nicht, was sie sonst tun sollen. Sie haben kein Geld zur Seite gelegt. Sie haben einfach nur ein paar Jahre am südchinesischen Wirtschaftswunder mitgewerkelt.
Und das war es dann. Schuldigkeit getan, zurück ins wahre Leben. Ins wirkliche China: In Baoan platzen die Träume von einer
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besseren Zukunft oft wie Seifenblasen. Hier ist die Mord-, Diebstahls-, Verkehrstoten- und Vergewaltigungsrate so hoch wie nirgends sonst in der Volksrepublik. Polizei und Security, in der Sonderwirtschaftszone allgegenwärtig,sieht man nicht. „Die Behörden haben unseren Stadtteil schon lange aufgegeben“, klagt Li Dong. Die 30-Jährige trägt ihren zwei Monate alten Sohn auf dem Arm. Ihr Mann ist bereits 38, arbeitet noch für 80 Euro im Monat auf einer Baustelle in der Sonderwirtschaftszone. Er ist krank. Kaputte Gelenke. Einen Arzt kann er sich nicht leisten. Und der Büroturm ist in wenigen Wochen fertig. Was danach kommt, ist ungewiss. „Ich will schnell weg von hier“, sagt Li Dong. „Zurück in mein Dorf. Ich habe Angst, dass das alles hier kein gutes Ende nimmt. Dass die Stadt uns erdrückt."