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Im Dorf der Bärte / Die Woche (1 Seite) / 1995

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Im Dorf der Bärte
1700 Einwohner, 251 Bartträger und diverse Weltmeister – nirgendwo in Deutschland sprießen Gesichtshaare so extravagant wie in Höfen an der Enz.
Foto: Agentur
Ein Mann, der keinen Bart trägt, ist nur ein halber Mann. Und wenn Ewald Ziegler es sich recht überlegt, und dabei verzieht er das Gesicht vor Verachtung, ist ein Mann ohne Bart wahrscheinlich überhaupt gar kein Mann mehr. „Das ist wie ein Baum ohne Ast, wie Suppe ohne Salz“, sagt der Bartträger und macht eine kleine Pause. „Ihm fehlt das Wichtigste.“ Seiner eigenen Logik entsprechend, ist er ein Prachtexemplar von einem Mann. „Ein ganzer Kerl“, wie er glaubt, „mit allem Drum und Dran.“
Der dichte, braune Vollbart, der sein Gesicht rahmt und bei dem jedes Haar akkurat sitzt, ist für den 42jährigen Schwarzwälder „mein wertvollstes Stück“: 40 Zentimeter lang. Sein ganzer Stolz. „Mit dem Bart ist mein Selbstbewußtsein gewachsen. Zentimeter um Zentimeter. Durch ihn bin ich ein anderer Mensch geworden.“
Es mag Zufall sein oder auch nicht, in der
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Bevölkerung von Höfen, Zieglers Heimatdorf im Schwarzwald mit 1700 Einwohnern, scheint es mehr echte Männer auf einem Haufen zu geben als überall sonst in dieser Republik. 251 von ihnen haben sich zum Höfener „Bart- und Schnorresclub e.V.“ zusammengefunden. Männer zwischen 25 und 85 Jahren. Ob Bierfahrer, Steinmetz, Arzt, Hotelier, Verkehrsamtsleiter oder Bürgermeister – im Dorf der Bärte gehört es zum guten Ton, Mitglied im Bartclub zu sein. Rasierte Männer dagegen stehen im gesellschaftlichen Abseits und gelten als Spaßverderber.
So pflegt der Höfener Ewald Ziegler den Hang zum Bart schon seit seiner Jugend, als sich der erste Flaum über der Oberlippe zeigte. Manchmal schnitt er die Spitzen mit der Schere, manchmal dunkelte er sie mit Bleistift nach. Aber er hat ihn noch nie abrasiert. Und als aus dem Jüngling ein Mann geworden war, suchte er den Kontakt zum Club, nahm an ein paar Schnupperabenden im Hotel „Ochsen“ teil und hörte dort auch zum ersten Mal das „Höfener Bartlied“: „Saub’re Bärte wachsen in Höfen, ja in Höfen an der Enz, diese Bärte sind am allerschönsten, wenn’s im Mädchenauge glänzt. Will der Bartwuchs nicht gleich gelingen, sein nicht traurig, du tapferer Mann. Er wird Freude spätestens dir bringen, wenn du ihn dann kämmen kannst.“ Die Melodie der Barthymne ist dem Volkslied „Hohe Tannen“ entliehen.
Nach mehrmaligem Schmettern des Fünfstrophers und so mancher Maß Schwabenbräu am Stammtisch im „Ochsen“ entschloß sich Ziegler, dem haarigen Männerklub beizutreten.
Aber nicht nur das: Ziegler wollte Bartprofi werden.
„Ich soll einfach alles wachsen lassen, damit man mal was sieht, haben die im Club mir geraten“, sagt Ewald Ziegler. Und ließ sich anfangs einen „kaiserlichen Backenbart" stehen. Mit dem hat er dann auch gleich an der Bart-Europameisterschaft in Höfen teilgenommen. Zu früh. „Das war wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ich war noch nicht soweit und hatte mich überschätzt“, weiß er heute. Denn das Ergebnis war sehr enttäuschend für den aufstrebenden Bart-Freak: In der Kategorie „kaiserlicher Backenbart“ erreichte Ziegler unter zehn Teilnehmern nur den siebten Platz. Bayern und Österreicher waren besser als er. „Mir ist damals klargeworden, daß ich mit dem, was ich da an den Backen hatte, keinen Krieg gewinnen kann.“
Während der nächsten Monate opferte der Arbeitslose seine gesamte Freizeit, also alles, für den Bart. „Weil mich der Kampfgeist gepackt hatte, weil ich ran an die Spitze wollte.“ Um das zu erreichen, sagten ihm gestandene Bartträger, sei die tägliche Pflege oberstes Gebot. „Der Bart braucht Pflege, wenn er stramm, gesund und attraktiv sein soll“, steht in den Statuten des Vereins.
Am nötigen Einsatzwillen ließ es Ziegler nicht mangeln: zupfen, bürsten, waschen, zwirbeln, formen – jeden Tag mindestens vier Stunden lang. Und die tägliche Bartkur mit einem Schweizer Pferdemark-Extrakt. „Das macht ihn glänzend, kräftig und natürlich schön“, erklärt Ziegler.
Der Mann mit den ehrgeizigen Bartplänen ließ sich von Pforzheimer
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Friseuren beraten und kaufte mehrere Sorten Haarwachs, Haarlack, Schaumfestiger, Bartklammern, Bartwichse sowie verschiedene Schoner für die Nacht. „Die Pflege meines Bartes kostet mich im Monat so um die 200 Mark“, schätzt er.
Der finanzielle Aufwand, das Schlafen auf dem Rücken und das stundenlange Training vor dem Spiegel brachten Ziegler im vergangenen Jahr den ersehnten Erfolg: Bei der Weltmeisterschaft in Pforzheim hat er in der Kategorie „Vollbart Naturale“ den dritten Platz erkämpft. „Die Bronzemedaille hat mich weiter aufgebaut und mir gezeigt, daß ich auf dem richtigen Weg nach oben bin“, sagt Ziegler.
Trotz der Weltmeisterschaft will er auf dem Boden bleiben und keine „Starallüren raushängen lassen, obwohl ich mit meinem Naturale dazu beitrage, die touristische Attraktivität Höfens zu erhöhen“. Ein bißchen fühlt er sich mit seinem fast makellosen Bart jetzt schon als „wandelndes Kunstwerk“. „Mein Gesicht ziert der drittschönste Naturale der Welt. Das kann nicht jeder vorweisen“, sagt der Höfener, der glaubt, seit seinem Aufstieg in den Vollbart-Olymp einen ganz anderen Stellenwert in seinem Heimatdorf zu genießen.
„Die Leute gucken jetzt anders. Interessierter. Respektvoller. Sie nehmen mich wahr. Wenn ich ausgehe, habe ich eine ungefähre Ahnung von dem, wie sich ein Schauspieler oder Popstar so fühlen muß, wenn er ständig und überall erkannt und bewundert wird“, sagt der Bartsportler. Autogrammsammler müssen ihn nicht lange bitten – der Bartträger hält für seine Fans immer einen Kugelschreiber parat.
Und wenn sich Touristen mit ihm fotografieren lassen wollen, so ist auch das kein Problem. „Vor allem Kinder und Japaner sind ganz scharf darauf, mich und meinen Naturale auf dem Bild festzuhalten“, sagt Ziegler und streicht sich sanft über den kompakten Bart, dessen einziger Feind der Regen ist – „weil die Wichse sich dann verflüssigt, alles verklebt und am Hals herunterläuft“.
So manches nette Gespräch ergebe sich mit Bewunderern und Neugierigen, etliche Einladungen zu „Bier oder Schorle“. Die Fragen seien dabei immer die gleichen: Wie lange machst du das schon? Wie schläfst du damit? Wie küßt du damit? Darf ich mal anfassen?
Um auch in der Disco Eindruck zu machen, hat er sich drei bunte Jacketts gekauft: ein gelbes, ein rotes und ein grünes. „Ich gehe am Tresen an die Damen ran, und dann entfacht sich meistens schnell das Feuer“, erläutert er seine Taktik. „Durch mein Outfit fallen bei den Damen die Hemmungen, und es ergibt sich immer ein Gespräch.“ Mehr meistens nicht. „Wenn sich die Damen sattgesehen haben, wird es für mich langweilig“, sagt Ziegler. Dann geht er wieder weg. In die nächste Disco oder Kneipe: „Bewunderung ernten.“
„Ich hatte schon Partnerinnen, die meinen Bart nicht mochten. Die verlangten, ich solle ihn abnehmen. Bisher habe ich mich aber immer für den Bart entschieden, und ich kann mir nicht vorstellen, daß es einmal anders sein wird. Und wenn mir eine Frau mal heimlich den Bart stutzt, ist das für mich ein absoluter Trennungsgrund“, sagt Ziegler.
Sein großes sportliches Vorbild ist Hans Laxgang, auch er ein
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Höfener. Er trägt einen Bart der Kategorie „Dali“. Ausgerollt erreicht er eine Länge von mehr als 80 Zentimetern. Gestylt und mit Bartwichse gefestigt, kringelt er sich mehrfach zeigefingerdick in Höhe der Backenknochen. Der Steinmetz trägt einen der erfolgreichsten Schnauzbärte der Welt. „Das liegt zum einen an seinem Wuchs, zum andern aber auch an meiner gesamten Ausstrahlung und dem selbstbewußten Auftreten“, glaubt der Fahrer eines Sportcoupés. „Viele Jüngere im Club sagen, du bist unser Vorbild, wir wollen es auch so machen wie du.“
Seine Erfolgsliste kann sich sehen lassen: Er ist mehrfacher Deutscher Meister, Welt- und Europameister sowie Olympiasieger. Mehrmals wurde er bei den Meisterschaften vom Kampfgericht zum „Super Buffo“ (Meister aller Klassen) gewählt. Ein Titel, auf den er besonders stolz ist. Stolz ist er auch darauf, daß er zu Betriebsfeten und Dorffesten „als Attraktion“ eingeladen wird (Honorar 500 bis 1000 Mark). Daß er in einem kleinen Werbespot von Togal mitgewirkt hat. Daß er auf der Pferderennbahn und im Kasino im nahegelegenen Baden-Baden von so mancher „Nerzdame mit pompösem Hut“ für einen „Künstler oder Modemacher“ gehalten wird.
Ziegler ist noch längst nicht soweit. Aber er ist davon überzeugt, daß seine berufliche Zukunft an diesem Bart hängt. Der Arbeitslose hofft, daß die Werbebranche auch auf ihn aufmerksam wird. „Die sind doch immer auf der Suche nach interessanten Gesichtern“, sagt er und reckt das Kinn energisch in die Höhe. „Ich habe eins.“